Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

Titel: 60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
erklärlich. Ich habe zweihundertvierzig Bogen zu schreiben, ehe die Sammlung beendet ist; dann erst erhalte ich Bezahlung. Morgen nachmittag werde ich fertig. Marie wird um dieselbe Zeit fertig, sie hat an dieser Stickerei gegen zehn Monate gearbeitet, Tag und Nacht, möchte ich sagen. Morgen abend erhalten wir beide Geld.“
    „Warum nicht eher, da Sie doch bereits am Nachmittage fertig werden?“
    „Sehen Sie sich unsere Kleidung an. Können wir am Tag so ausgehen?“
    „Wo haben Sie die besseren Sachen?“
    „Beim Trödler und Pfandleiher. Wir mußten leben. Seit einer Woche haben wir nichts zu verkaufen. So lange Zeit haben wir gehungert.“
    „Aber über Ihren Noten haben Sie doch nicht monatelang zugebracht!“
    „Nein. Als ich den vorigen Auftrag beendet hatte, war der Herr, welcher ihn mir erteilte, verreist. Er ist noch nicht zurückgekehrt, daher erhielt ich keine Bezahlung. Zuweilen hatte ich einen Brief zu schreiben oder eine kleine Abschrift zu machen. Das bringt nur Groschen ein und reicht für so viele Personen und einen Todkranken nur auf Stunden.“
    „Sie müssen mehr arbeiten!“
    Da färbten sich auch die Wangen des jungen Mannes, aber nicht vor Scham, sondern vor Zorn. Doch Marie kam ihm mit der Antwort zuvor.
    „Herr Seidelmann“, sagte sie. „Robert hat Tag und Nacht gearbeitet und uns ernährt. Morgen nehmen wir Geld ein, und dann werden wir die Miete bezahlen!“
    „Schön! Wenn morgen die Bezahlung unterbleibt, wird der Herr Baron Sie vor die Tür setzen. Was für Noten schreiben Sie denn ab?“
    Er langte hin und ergriff ein Blatt. Fast erschrocken warf er es wieder hin und rief:
    „Liebeslieder! Liebeslieder! Und da reden Sie von Elend, von Arbeit und Hunger?“
    „Liebeslieder?“ sagte Robert. „Ich will Ihnen zeigen, daß dies kein Liebeslied ist.“
    Er nahm das Blatt auf und las:
    „O lieb, so lang du lieben kannst!
O lieb, so lang du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo du an Gräbern stehst und klagst!“
    Er warf das Blatt zornig wieder auf den Tisch und fragte:
    „Nennen Sie das ein Liebeslied, Herr Seidelmann?“
    „Was sonst, mein Lieber, was sonst?“
    „Nein, und tausendmal nein! Ferdinand Freiligrath ist der Dichter. Er meint hier die göttliche Liebe, welche sich durch den Menschen am Mitmenschen offenbaren soll. Wollte Gott, daß seine Diener sich auch dieser Liebe befleißigten, anstatt für freiherrliche Hausbesitzer die Kassierer des Mietzinses zu sein!“
    Der Vorsteher machte eine Gebärde des Abscheus.
    „Freiligrath, der Revolutionär, der Gottesleugner! Und auf die Diener Gottes schimpfen Sie. Ich sehe, daß Sie keine Milde verdienen. Was ist das für ein Buch?“
    Ohne erst um Erlaubnis zu fragen, ergriff er ein auf dem Koffer liegendes Buch. Es war fein in Saffian gebunden und auf der Vorderseite des Einbandes war in goldenen Lettern zu lesen: ‚Heimats-, Tropen- und Wüstenbilder. Gedichte von Hadschi Omanah‘. Er schlug das Buch auf und las den Vers, den er zuerst erblickte:
    „Ich will dich auf den Händen tragen
Und dir mein ganzes Leben weih'n.
Ich will in deinen Erdentagen
Dir stets ein treuer Engel sein!“
    Bei dem Klang dieser Worte warf das schöne Mädchen einen Blick des Stolzes auf den Pflegebruder. Herr Seidelmann aber legte das Buch wieder fort und sagte:
    „Abermals ein Liebesgedicht! Das werden Sie wohl dieses Mal nicht bestreiten.“
    „Nein“, antwortete Robert ruhig:
    „Und solche Sachen lesen Sie?“
    „Sogar sehr gern.“
    „Das glaube ich. Wer mit einem jungen Mädchen Tag und Nacht allein im Zimmer steckt, der liest natürlich sehr gern Liebeslieder. Aber diese Lieder werden zu Taten, zu unzüchtigen, verbrecherischen Taten, welche ich –“
    „Herr Vorsteher!“ unterbrach ihn Robert drohend. „Sie kommen anstelle des Hauswirtes zu uns; wir müssen Ihre Gegenwart dulden. Außerdem ehre ich Ihr Amt in Ihrer Person, aber Beleidigungen wie diejenigen, welche Sie heut aussprachen, werde ich niemals dulden!“
    Da warf ihm der fromme Mann einen giftigen Blick zu und antwortete:
    „Haben Sie Bettstellen?“
    „Nein!“ antwortete Robert, ganz verblüfft über diese Frage. „Vater hat sie aus Not verkaufen müssen.“
    „Wie schläft die Familie?“
    „Vater und ich hier auf Stroh und Marie mit den kleinen Geschwistern draußen auf den Matratzen.“
    „Das glaube, wer da will, nur ich nicht! Sie sind vor zwei Wochen um eine Unterstützung für Ihren kranken Vater eingekommen. Das Armenamt hat

Weitere Kostenlose Bücher