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60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

Titel: 60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Herr Seidelmann beide Hände abwehrend aus und sagte:
    „Das hieße, Gott vorgreifen! Gott tut noch Zeichen und Wunder. Er wird Ihnen helfen, sobald die Zeit gekommen ist. Wollte aber ich Euch helfen, so würde ich mich gegen den Ratschluß des Allbarmherzigen versündigen! Wissen Sie, was für einen Tag wir heute haben?“
    „Freitag.“
    „Ich meine Datum!“
    „Wenn ich mich nicht irre, so ist es der letzte November.“
    „Sie haben recht, lieber Bertram. Morgen ist also der erste Dezember, an welchem die Miete zu bezahlen ist. Haben Sie das Geld beisammen?“
    „Herr Seidelmann, wenn ich nur einen Pfennig hätte, so würde ich eine Semmel kaufen und sie unter diese Kinder verteilen!“
    „Semmel? Sehen Sie, wie hochmütig und genußsüchtig Sie sind! Fleischeslust! Ich an Ihrer Stelle würde froh sein, wenn ich Brot hätte!“
    Da raffte sich der Schwindsüchtige empor, wankte einen Schritt näher und antwortete:
    „Fleischeslust? Herr Seidelmann, kann ich für einen einzigen Pfennig ein Brot bekommen? Mit einer Semmel würden diese Kleinen wenigstens ihren Magen täuschen können. Sie könnten sie in Wasser erweichen und dann dieses Wasser trinken. Sie sprechen von Gott und Gottes Wort. Hören Sie aber das Wort eines Vaters, der seine Kinder hungern sieht! Sehen Sie hier meine Arme! Befände sich nur noch eine Spur von Fleisch daran, so würde ich es mir abschneiden, um den Hunger der Meinigen damit zu stillen! Geben Sie Brot, ein Brot, und ich will Sie verehren, als ob Sie der Heiland selber wären!“
    Diese Anstrengung war zu groß für ihn. Er sank unter einem lang andauernden Hustenanfall auf den Stuhl zurück. Herr Seidelmann wartete, bis dieser vorüber war, und rief dann im Ton des allerhöchsten Schreckens:
    „Herrgott, vergib dem Mann diese Todsünde! Er will seine Familie mit Menschenfleisch füttern und mich als den Heiland Jesus Christus anbeten! Diese Gottlosigkeit –“
    „Schweigen Sie!“
    Diese zwei Worte ertönten von der Seitentür her, welche sich geöffnet hatte. Unter derselben erschien ein junger Mann, welcher vielleicht einundzwanzig Jahre zählen mochte, aber seine blassen, ausgehöhlten Wangen, seine fast fieberhaft glänzenden Augen, sein wirres Haar ließen ihn älter erscheinen.
    Seine Züge waren edel; sie erinnerten an die Porträts, welche uns aus dem alten Griechenland überliefert worden sind. Er stand da in der Haltung eines Menschen, welcher bereit ist, einem anderen den Degen durch den Leib zu rennen.
    „Ah, der Herr Privatsekretär!“ meinte Herr Seidelmann. „Sie haben gehört, was wir gesprochen haben?“
    „Leider! Sie wollen Geld?“
    „Leider!“ antwortete der Vorsteher, den Frager nachahmend.
    „Bitte, treten Sie mit hier herein!“
    Er kehrte in die Nebenstube zurück, und Herr Seidelmann folgte ihm, während der Kranke an einem Hustenanfall bald erstickte.
    Hier stand ein Tisch nebst zwei Stühlen und ein alter Koffer, auf dem Tisch eine kleine Petroleumlampe. Einiges Stroh lag in der Ecke. Das war alles, was man erblickte. Aber inmitten dieser Armseligkeit gab es einen Edelstein, wie er wertvoller gar nicht hätte sein können.
    Auf einem der Stühle saß nämlich ein junges Mädchen. Sie mochte achtzehn Jahre zählen. Ihre Wangen waren bleich und hohl, der Blick ihrer Augen matt, todmüde und ihre Kleidung kaum hinreichend, ihre Blöße zu decken. Aber das war die Folge der bittersten Armut und des Hungers. Ein einziger Lichtblick des Glücks hätte diese Wangen erglühen und diese Augen wonnig aufleuchten lassen. Und dann hätte dieses Kind des Elends der größten Schönheit des königlichen Hofes an die Seite gestellt werden können.
    Sie saß bei einer feinen Stickerei. Der Stoff, welchen sie bearbeitete, war reich, sehr reich; das Material bestand aus Perlen, Gold- und Silberfäden. Wie lange mochte sie über dieser Arbeit gesessen haben, vielleicht viele Monate lang! Jetzt schien sie beinahe fertig zu sein. Sie erhob sich, und ein leises, aber ganz leises Rot trat in ihr Gesicht. Nur die Scham konnte die Kraft haben, das dünne Blut in die hohlen Wangen zu treiben.
    „Ah, da ist auch Jungfer Mariechen!“ sagte Seidelmann. „So traulich beisammen!“
    „Bei der Arbeit“, antwortete Robert, indem er auf einen Stoß Notenblätter zeigte, welche auf dem Tische lagen. „Ich schreibe Noten, Herr Vorsteher.“
    „Das ist ein einträgliches Geschäft. Wie kann man dabei hungern und die Miete schuldig bleiben!“
    „Das ist leicht

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