60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
Tasche, zog eine Zuckertüte hervor und gab sie dem hübschen, kräftig gebauten Knaben, welcher wohl vier Jahre alt sein mochte.
„Das ist von dem Onkel, der dich so lieb hat!“ sagte er dabei. „Möchtest du einmal zu ihm kommen?“
„Ja“, antwortete natürlich der Junge, indem er ein Stück des Inhaltes in den Mund schob.
„Nun, was sagt Ihr dazu?“
Die Eltern blickten einander fragend an. Kein Brot, kein Holz, keine Kohlen, morgen Hauszins und Polizeistrafe! Das Kind zu einem großen Künstler, bei dem es jedenfalls besser aufgehoben war als bei ihnen! Und dagegen zehn blanke Taler!
„Was denkst du, Frau?“ fragte der Mann.
„Mach, was du willst!“
„Herr Seidelmann, wann würden wir das Geld bekommen?“
„Sogleich!“
„Wann wird der Junge geholt?“
„Noch heute abend. Ich schicke mein Dienstmädchen her.“
„Na, dann in Gottes Namen. Der Junge ist uns zwar ans Herz gewachsen, aber die Not ist groß; er wird nicht länger zu hungern brauchen, und ich bin ja überzeugt, daß Sie uns nur einen Rat geben, der gut ist. Es kann zu seinem Glück sein, und unser Kind bleibt er doch!“
„Das ist sehr verständig von Euch gedacht, und ich danke Gott, daß er Euer Herz zu diesem Entschluß gelenkt hat. Schreiben können Sie doch, Schubert?“
„Leidlich.“
„Das ist gut. Ich werde dem Mädchen einen Revers mitgeben, welchen Sie unterschreiben müssen. Das Kind muß doch eine Legimitation haben. Hier ist das Geld.“
Er bezahlte die zehn Taler und ging, von den Segenswünschen der Eltern begleitet. Auf der Gasse angekommen, eilte er sogleich zur nächsten Droschkenstation und fuhr – nach dem Zirkus, dessen Besitzer zufälligerweise auch sofort zu sprechen war.
„Nun“, fragte dieser. „Haben Sie es den Leuten vorgestellt, Herr Seidelmann?“
„Ja, aber sie bedenken sich noch immer.“
„Was gibt es da zu bedenken! Ich zahle die sechzig Taler, und sie geben mir dafür den Jungen!“
„Hm! Wenn Sie stets hierblieben, damit die Eltern das Kind zuweilen sehen könnten.“
„Das geht nicht; ich besuche alle Haupt- und größeren Städte. Und übrigens ist es am besten, man hat die Eltern nicht in der Nähe. Aus den Augen, aus dem Sinn!“
„Da glaube ich nicht, daß sie darauf eingehen.“
„Das wäre mir fatal! Ich habe noch nie so einen prächtigen Jungen gesehen! Er ist geradezu zum Kunstreiter geboren. Ich brauche unbedingt so einen Knaben. Ein Junge, der etwas leistet, zieht die Leute herbei. Leider sind mir in den fünf Jahren drei solche Jungens verunglückt. Der eine brach das Genick, und die beiden anderen stürzten und starben etwas später.“
„Das dürften diese braven Leute nicht wissen. Übrigens ist ihnen auch die Summe, welche Sie bieten, zu niedrig.“
„Sechzig Taler? Wieviel verlangen sie denn?“
„Gerade das Doppelte.“
„Das ist viel, sehr viel! Wie nun, wenn mir der Junge gleich beim ersten Mal den Hals bricht?“
„Das steht doch nicht zu erwarten. Diese Leute stecken in Not, sonst würden sie den Jungen gar nicht hergeben, selbst dann nicht, wenn ich als Armenpfleger ihnen zureden wollte. Geben sie ihn her, so dann nur gegen eine Summe, welche genügend ist, ihre Not wenigstens auf einige Zeit zu lindern.“
„Aber gleich das Doppelte!“
„Ich kann weder den Eltern, noch Ihnen zu- oder abraten. Ich habe meinen Auftrag ausgerichtet. Sie nehmen ihn nicht an, und so ist es wohl Gottes Wille, daß der Knabe bei den Eltern bleibt.“
Er machte Miene, zu gehen; der Direktor ließ ihn aber nicht fort.
„Wären denn nicht hundert Taler genügend?“ fragte er.
„Es sind gerade hundertzwanzig, welche die Eltern brauchen!“
„Hm! Der Junge ist bildhübsch! Ich kann mir etwas mit ihm verdienen!“
„Das ist sicher! Bedenken Sie, daß er gezwungen ist, für Sie zu arbeiten, bis er mündig ist.“
„Das habe ich auch zu rechnen. Na, Herr Seidelmann, so mag es sein! Ich zahle die hundertzwanzig Taler!“
„Wann?“
„Das kommt darauf an, wann ich den Jungen erhalte.“
„Ich werde mein Möglichstes tun, und denke, daß ich ihn Ihnen noch heute schicken kann, und zwar mit den nötigen Papieren.“
„So gebe ich jetzt sechzig und die anderen sechzig dem Boten, der ihn bringt.“
„Gut! Abgemacht! Diesen Knaben vom Hungern erlöst, ist ein Werk, dessen sich die Engel freuen werden!“ –
Vorhin, als Herr Seidelmann so schnell von Bertrams fortgegangen war, hatten die beiden Geschwister einander eine Weile stumm
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