60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
als bis er aus dem Kreis ihres Lampenscheins war. Der Jude führte ihn hinaus. Als er zurückkam, stellte er sich vor die beiden Frauen hin, schlug die Hände zusammen und sagte:
„Gott der Gerechte! Welch ein Abend! Ist der Hauptmann bei uns gewesen! Haben wir ihn gesehen stehen hier grad vor uns und gehört den Klang seiner Stimme!“
„Aber wir kennen ihn nicht!“ meinte Judith.
„Nein, wir kennen ihn nicht! Hat er doch auf dem Gesicht getragen eine Maske, und ehe er sie aufsetzte, da saß er hier und –“
„Er saß erst ohne Maske hier?“ unterbrach sie ihn schnell.
„Ja.“
„So mußt du doch sein Gesicht gesehen haben!“
„Nein. Er hat sich gesetzt in das Finstere. Ich sah nur einen großen schwarzen Bart und zwei Augen, welche leuchteten wie die Augen einer Katze, wenn sie will beißen eine Maus. Er war die Katz' und ich die Maus!“
„Wer mag es sein? Er hat nicht die Sprache und das Wesen eines gewöhnlichen Mannes.“
„Nein; er ist ein vornehmer Mann. Es kann auch gar nicht anders sein, als daß der Hauptmann gehört zu den Leuten, welche sich bewegen in den Kreisen, welche man nennt fein und gebildet. Aber, wie kamst du zu uns, Judith, mein Tochterleben?“
„Sarah Rubinenthal ist droben bei mir auf Besuch. Ich kam herab, um Mutterleben zu senden nach Schokolade, welche ich der Freundin vorsetzen wollte.“
„So will ich gleich eilen, zu holen Schokolade!“ meinte die Alte.
„Und ich will mich spurten, einzutragen die Nummern von diesen fünf Hunderttalerscheinen in das Buch der Kasse. Sie sind sehr leicht verdient“, bemerkte der Alte.
„Und ich werde zur Freundin zurückkehren. Sie wird mich mit Sehnsucht erwarten“, sagte Judith.
„Warum mit Sehnsucht?“ fragte der Vater.
„Weil wir sind beschäftigt, zu lesen und zu deklamieren aus dem herrlichen Buch, welches hat geschrieben Hadschi Omanah, der berühmte Dichter des Morgen- und Abendlandes.“
„Immer lies, mein Tochterleben! Judith, die einzige Erbin von Salomon Levi, wird einst erhalten eine Million. Sie soll haben Geist und Bildung, um zu heiraten einen Grafen, und zu erfreuen mit Stolz das Herz ihres Vaters!“
Das Mädchen ging. Sie stieg die enge Treppe empor und trat dann in ein kleines, einfensteriges Stübchen, welches wirklich allerliebst und gar nicht nach der bekannten, jüdisch überladenen Manier ausgestattet war.
Dort saß am Tisch ein Mädchen, vielleicht zwanzig Jahre alt, aber klein, häßlich und ausgewachsen. Aber wie man grad unter den Häßlichen und Buckeligen oft recht geistreiche Menschen findet, so hatte auch dieses von der Natur äußerlich so kärglich bedachte Mädchen ein herrliches Augenpaar, aus dem eine Seele leuchtete, deren der Körper nicht würdig war.
Man macht oft die Erfahrung, daß schöne Mädchen sich ihre Lieblingsfreundin grad unter den Häßlichen suchen. Ist es nur deshalb, weil dadurch ihre Vorzüge eine besondere Folie erhalten, oder hat dies einen anderen, tiefer zu suchenden Grund – so auch hier.
Judith legte das Tuch ab, und nun stand sie im Schein der Lampe da in einer Schönheit und Herrlichkeit, welche einen Makart in Entzücken versetzt hätte. Groß und voll gebaut, von stolzer Haltung und wahrhaft gebieterischem Gesichtsschnitt, zeigte sie jene Schönheit, welche der Jugend ihres Stammes zu eigen ist, aber leider rasch zu vergehen pflegt, in ihrer ganzen Glorie. Sie hieß Judith, und sie war eine Judith. Wie mag sich Hebbel in seinem klassischen Schauspiel die Judith gedacht haben? Welches Bild mag den Malern und Bildhauern, welche sich an dieses Problem wagten, vorgeschwebt haben? Sie hätten hier dieses Mädchen sehen sollen, und sicherlich wären sie einstimmig in den entzückten Ruf ausgebrochen:
„Ja, das ist die wahre Judith, das mutvolle Weib, die Mörderin des Holofernes, die Retterin ihrer Heimat, welche selbst ihre Tugend zum Opfer brachte, um den Ihrigen das abgeschlagene, blutige Haupt des Feindes zu bringen.“
„War ich dir zu lange?“ fragte sie.
Dabei klang ihre Stimme ganz anders als vorher da unten in der Gerümpelstube. Der Klang war ein so schwesterlicher, traulicher, wohltuender.
„Wohl nicht“, antwortete die Freundin. „Aber da wir dieses Gedicht lasen, mußte ich warten, und deshalb ist es mir fast recht lang geworden.“
„So laß uns weiterlesen! Ist es nicht, als habe dieser Hadschi Omanah in unsere Herzen geblickt, um dann unsern Gefühlen, Wünschen und Gedanken diese glanz- und prunkvollen Reime zu
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