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60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

Titel: 60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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geben?“
    „Ja“, antwortete die Freundin nachdenklich. „Er muß ein hochgeborener Mann sein; an seiner Wiege hat das Glück gesessen, sonst wäre ihm diese Pracht und Herrlichkeit fremd geblieben. Die Worte, in welcher er seine Gedanken kleidet, gleichen funkelnden Brillanten, welche in allen Farben und Nuancen schimmern und flimmern. Keiner dieser Diamanten und Smaragde, Rubine und Saphire hat eine falsch geschliffene Facette. Es ist alles so wertvoll, echt und schwer, wie es eigentlich nur ein König, ein Kaiser tragen kann.“
    Bei dieser begeisterten Lobrede schüttelte Judith leise und langsam den Kopf.
    „Vielleicht findet gerade das Gegenteil statt“, sagte sie. „Viele Dichter und Schriftsteller schreiben gerade über das, was ihnen am allerfernsten liegt, am allerliebsten. Ein Prinz schreibt gern Dorfgeschichten, ein Melancholikus gern Humoresken, und ein Literat, welcher mit dem Hunger kämpft, wagt sich an das Höchste und Beste, was der Mensch zu erreichen vermag. Er träumt, es im Besitz zu haben; seine Phantasie schmückt es mit allen irdischen Werten und Schönheiten; er fühlt sich während des Schreibens als Glücklichster der Sterblichen und sinkt, wenn er die Feder fortlegt, dem Knochengespenst des Hungers und des Elends wieder in die Arme.“
    Sie ahnte nicht, wie recht sie in diesem Fall hatte. Aber ihre Freundin sagte:
    „Daran glaube ich hier nicht. Wer sich zu solcher Höhe emporzuschwingen vermag, muß auch schon auf Erden hoch Fuß gefaßt haben. Höre nur hier, wo er von dem Suchen nach Gott spricht!“
    Sie nahm das Buch zur Hand und las begeistert vor:
    „Schwingt Euch hinauf in jene Fernen,
Zum großen Weltenozean;
Lest in den Sonnen, in den Sternen!
Sie zeigen euch des Ewgen Bahn.
Dort oben kann kein Zweifel walten,
Wie hier in Wort und Buch und Schrift.
Dort muß der Geist sich frei entfalten,
Bis er auf seinen Urquell trifft!“
    „Kann ein Leidender, ein Hungriger so schreiben?“ fragte sie. „Klingt nicht aus jedem Wort ein Mut, eine Kraft, eine Stärke, welche nur, daß ich mich so ausdrücke, in einem gutgenährten Körper wohnen kann?“
    „Dann müßten alle Helden der Weltgeschichte auch körperlich Titanen gewesen sein, und doch wissen wir das Gegenteil. Zeig her, den Schluß des Gedichts. Auch in ihm funkelt und brilliert es, als ob der Dichter seinem Gedanken einen Königsmantel umgetan und eine Krone aufgesetzt habe. Und doch! Hör einmal!“
    Sie nahm das Buch gar nicht in die Hand. Sie kannte das Gedicht. Sie rezitierte aus dem Gedächtnisse und deklamierte:
    „Dann einet sich zu einem Strome
Die Menschheit all von Nah und Fern,
Und kniet anbetend in dem Dome
Der Schöpfung vor dem einen Herrn.
Dann wird der Glaube triumphieren,
Der einen Gott und Vater kennt
Die Namen sinken, und es führen
Die Wege all zum Firmament!“
    Sie war prächtig anzuschauen, diese Judith, welche sich von dem Dichter des Gottesgedankens so begeistern ließ, daß sich ihre Wangen röteten und ihre dunklen Augen leuchteten und funkelten wie schwarze Kapdiamanten im Kandelaberlicht.
    Da drüben auf der jenseitigen Straße, im hocharistokratischen Haus, hatte vor wenigen Minuten Fanny von Hellenbach die ‚Nacht‘ desselben Dichters deklamiert. Welche von den beiden Mädchen war die Schönere, die Begeistertere? Das ließ sich schwer sagen.
    Judith hätte jene Gewandung tragen sollen, welche ihre Namensschwester trug, und kein Holofernes hätte ihr widerstanden. Sie ließ die beim Deklamieren erhobenen Arme sinken und sagte:
    „Für dich klingt aus diesen Worten und Reimen eine Kulanz und Brillanz, welche nur einem Hochgeborenen eigen sein kann, und mir ist es, als ob ein Sterbender, der nicht empor zum wahren Firmament kann, ertrinkend tiefer und immer tiefer in die Fluten sinkt, in denen er ja auch ein Firmament erschaut, ein trügerisches – das seinige!“
    In ihren Augen schimmerte es feucht; es war ihr, als ob sie eine trübe, unglückliche Weissagung ausgesprochen hätte.
    „Oh, könnte ich ihn halten, ihn emporziehen, ihn retten!“ fügte sie hinzu.
    Die Freundin blickte ihr in das erregte Gesicht und sagte dann:
    „Du schwärmst für ihn!“
    „Schwärmen?“ fragte Judith, stolz die schönen Achseln zuckend. „Was ist Schwärmen? Ich kenne es nicht. Ich liebe ihn; ich liebe ihn glühend, wie nur ein Weib zu lieben vermag!“
    „Das heißt, du liebst seine Gedichte!“
    „Nein; ich liebe seine Seele, welche wie ein schönes, leuchtendes Porträt aus seinen Worten

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