600 Stunden aus Edwards Leben
im Gerichtssaal haben Sie meine Gefühle auf das Niveau von Hass getrieben. Ich hasse Sie. Das ist ein Wort, das ich nicht leichtfertig benutze.
Wenn es etwas Gutes an Ihrem schrecklichen Ausbruch heute gab, dann war es, dass Richter Alan Robeson mit eigenen Augen sehen konnte, was für ein furchtbarer Mensch Sie sind, und Ihnen daraufhin eine Entlassung gegen Kaution verweigerte. Während ich nicht weiß, wie lange Sie hinter Gittern bleiben werden – das kann ich nur vermuten, und ich bevorzuge Tatsachen –, weiß ich sehr wohl, dass Donna Middleton ihr Leben ohne Sie und Ihre bösartige, verletzende Kontrollsucht weiterführen wird.
Ohne Sie ist sie viel besser dran. Auch wenn Sie das zweifellos wütend machen wird, macht es ihre Familie – und vor allem ihren Sohn – glücklich. Und ich freue mich für sie.
Mit freundlichen Grüßen,
Edward Stanton
Ich drucke den Brief aus und lege ihn in den grünen Aktenordner, den ich vor einiger Zeit angelegt habe. Dabei ändere ich den Karteireiter in »Mike Simpson« um, statt nur »Mike.«
Ich hoffe, es ist das letzte Mal, dass ich ihn aus dem Aktenschrank nehmen muss.
DIENSTAG, 28. OKTOBER
Ich befinde mich in einem fast leeren Raum, in dem nur ein Tisch und drei Pappschachteln stehen – eine rote, eine blaue, und eine gelbe.
Ich gehe zum Tisch, hebe den Deckel der roten Schachtel an, und Mike Simpsons Kopf schnellt hervor.
»Was, wenn ich nicht ins Gefängnis komme, Edward?«, sagt der Kopf zu mir. »Was dann?«
Jetzt bin ich in einem anderen leeren Raum, in dem sich nur drei Türen an der gegenüberliegenden Wand befinden. Sie sind mit 1, 2 und 3 beschriftet.
Ich gehe hin und öffne Tür Nummer 1. Mike Simpson steht dahinter.
»Was dann, Edward?«
Danach bin ich in noch einem anderen Raum, der diesmal mit Menschen verschiedener Größe und Gestalt gefüllt ist, aber alle tragen Mike Simpsons ambossförmigen Kopf, der in zigfacher Ausführung herumfährt und mich anstarrt.
»Was dann, Edward?«, fragen alle im Chor. »Ich werde dich töten, das passiert dann. Du bist tot.«
Jetzt bin ich wach, und mein Herz schlägt laut gegen meinen Brustkorb. Es ist 6:45 Uhr. Ich wage nicht, noch einmal einzuschlafen, aus Angst, dieses Gesicht wiederzusehen. Ich greife nach meinem Notizbuch, notiere die Zeit, und meine Daten sind vollständig.
Im
Herald Billings-Gleaner
steht, der Regen werde die ganze Woche anhalten, was eine Aussicht ist, mit der ich überhaupt nichts anfangen kann. Mich interessieren die Fakten einer Sachlage, und die einzigen Fakten über das Wetter, die der
Herald-Gleaner
heute liefern kann, sind die gestrige Höchst- und Tiefsttemperatur und die Vorhersage für heute. Ich notiere alles in meinem Notizbuch, und meine Daten sind vollständig.
Ich erinnere mich, dass ich auf der
Billings West Highschool
in meinem dritten Jahr in Englisch eine Lehrerin hatte, die endlos über Symbolik in der Literatur sprach. Sie sagte, Regen in einer Szene veranschauliche (ich liebe das Wort »veranschaulichen«) einen Scheideweg. Allerdings habe ich jahrelang Daten über das Wetter hier in Billings zusammengetragen, die darauf hinweisen, dass das nicht stimmt. Regen entsteht durch Wolkentröpfchen, die zu groß sind, um noch länger von den Wolken festgehalten zu werden. Der Wasserdampf unterhalb der Wolken kondensiert zu diesen Tröpfchen, die dann vom Himmel fallen. Das hat nichts mit Scheidewegen zu tun. Es liegt in der Natur der Dinge, dass es immer irgendwo auf der Erde regnet, und dass es dabei auch immer irgendwo auf der Welt Scheidewege gibt, ist ein Zufall, keine Wissenschaft.
Diese Lehrerin behauptete auch, ein Umzug nach Osten bringe Unglück. Sie rechtfertigte ihre Aussage mit dem berühmten Zitat von Horace Greeley: »Go West, young man.« Ich denke, wenn sie nur an die vielen Leute gedacht hätte, die Richtung Osten nach New York gingen und ihr Glück machten, hätte sie einsehen müssen, was für einen Blödsinn sie uns da beibrachte. Es war Frank Sinatra, der sagte, wenn du es in New York schaffst, kannst du es überall schaffen. Nehmen Sie ruhig Horace Greeley. Ich nehme Frank Sinatra.
Ich esse die letzten großen Löffel voll Cornflakes, werfe mir das Fluoxetin in den Mund, spüle es mit Orangensaft hinunter und gehe zum Duschen. Der heutige Tag ist wichtig. Dr. Buckley wartet.
Der Besuch bei Dr. Buckley bedarf einiger Vorbereitung.
Ich hatte Joy-Annettes immer aggressiver werdende E-Mails jedes Mal ausgedruckt, als sie kamen,
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