600 Stunden aus Edwards Leben
meines Vaters. Links von ihr sitzt der allgegenwärtige Jay L. Lamb. Ich drehe den Kopf, mustere die anderen Gesichter und sehe, dass meine Mutter es ernst meinte, als sie sagte, es werde nur eine kleine Beerdigungszeremonie geben: Ich erkenne den Bürgermeister von Billings, Kevin Hammel, dann eins, zwei, drei, vier, fünf Mitglieder des Stadtrats sowie Rolf Eklund und Craig Hashbarger, die beiden Landratskollegen meines Vaters.
»… Ted Stanton war kein Mann, der sich mit ›gut genug‹ zufrieden gab, wenn ein ›besser denn je‹ in greifbarer Nähe war …«
Als ich mich zur anderen Seite drehe, nach rechts, fällt mir jemand auf, den ich beim ersten Mal übersehen habe: Dave Akers, Freund meines Vaters und Thema des letzten politischen Gefechts seines Lebens. Er steht abseits der anderen, die sich unter der Markise zusammendrängen, damit sie nicht vom eiskalten Regendurchnässt werden. Er wirkt traurig und fahl (ich liebe das Wort »fahl«), so wie meine Mutter an jenem ersten Tag.
»… und so gestatten Sie sich diesen Moment der Trauer, um den Verlust eines wahrhaft außergewöhnlichen Menschen zu beklagen, aber freuen Sie sich dann, dass es uns vergönnt war, diesen Menschen gekannt zu haben …«
Ich fühle mich unwohl. Wie kann ich meines Vaters Sohn sein und dennoch unter den Menschen, die ihm hier die letzte Ehre erweisen, keinen einzigen kennen außer meiner Mutter und Jay L. Lamb (der noch dazu ein recht schäbiger Mensch ist)? Wessen Schuld ist das? Ich bin nicht weise genug, darauf eine Antwort zu wissen. Ich hoffe, es ist meine Schuld. Zumindest habe ich dann eine Chance, es wiedergutzumachen.
»… Amen.«
Während die kleine Gesellschaft sich vorschiebt, um Rosen auf den Sarg meines Vaters zu legen, bevor er in die Erde gelassen wird, drehe ich mich neunzig Grad nach rechts und trete unter der Markise hervor in den Regen, der mir ins Gesicht schlägt, und zwischen die Reihen derer, die wie mein Vater von uns gegangen sind.
Knapp zweihundert Meter entfernt suche ich Schutz unter einem Baum. Mein Haar ist klitschnass, und ich fahre mit den Fingern hindurch, von den Schläfen nach hinten, sodass mir das Wasser in den Kragen läuft.
Ich stehe vor einem Familiengrab:
CLAUDE T. BOONE
1906‐1954
Geliebter Vater
AGNES MILLER BOONE
1910‐1987
Geliebte Mutter
RANCE LEROY BOONE
1930‐1992
Ergebener Sohn
Ich rutsche am Baumstamm hinunter, sodass die Rückseite meiner schwarzen Hose im Matsch landet. Die Tränen, die ich so gar nicht mag, wehren sich gegen meine angestrengten Versuche, sie zurückzuhalten, bis ich sie schließlich nicht länger bezwingen kann.
Als ich im Haus meiner Eltern – meiner Mutter – ankomme, ist der Empfang schon in vollem Gang. Viele der Mächtigen von Billings, von Yellowstone County und von Montana sind hier und führen in diversen Gruppen angeregt Konversation über das, worüber politisch Mächtige eben so reden.
Es sind mehr Menschen hier als auf der Beerdigung. Meine Mutter versucht, mich vielen von ihnen vorzustellen: dem Bürgermeister, dann einem jüngeren Paar, das, wie ich erfahre, die Nachbarn sind, dann einem ehemaligen Kollegen meines Vaters von
Standard Oil
. Irgendwann muss meine Mutter sich zwangsläufig um andere Dinge kümmern – Essen oder Getränke oder den Lockruf irgendeines Politikers ‐, und so wandere ich bald allein durchs Haus und versuche, die vielen Fremden anzulächeln (was schwer ist), die mich mit kurzen Seitenblicken grüßen.
Dreimal werde ich gefragt, woher ich meinen Vater kannte. Das erste Mal kommt es mir schlicht absurd vor, aber ich antworte trotzdem, wenn auch nur, um das Unbehagen (ich liebe das Wort »Unbehagen«) des Fragestellers zu sehen. Das zweite Mal bin ich gekränkt, antworte jedoch wieder, gereizt. Das dritte Mal antworte ich nicht, sondern drehe mich um und gehe zur Treppe. Ich steige aus dem leisen Gebrabbel in den Hauptteil des Hauses hinauf, bis ich das Gästezimmer finde – in dem ich nie übernachtet habe ‐, schließe hinter mir die Tür und genieße die Stille.
Dieses Zimmer ist anders als der Rest des Hauses. Als mein Vater das Haus bauen ließ, gab er einen zeitgenössischen Stil in Auftrag, mit viel Glas und Chrom und spitzen Winkeln. Die Möbel im ganzen Haus sind bequem, aber nicht einladend, wenn Sie wissen, was ich meine. Doch dieses Zimmer ähnelt mehr dem, was man in einem alten, gemütlichen Farmhaus finden könnte – ein großes, dick aufgeplustertes Bett,
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