600 Stunden aus Edwards Leben
wahr sein.«
»Du bist nicht verrückt, Mutter. Und es ist wahr.«
»Ich weiß. Kommst du immer noch morgen zur Beerdigung?«
»Ich werde da sein.«
»Danke.«
»Mutter?«
»Ja.«
»Mir tut es auch leid, dass ich geschrien habe.«
Es ist Halloween, aber niemand klingelt an der Tür. Genau so habe ich es geplant. An Halloween schalte ich alle Lichter aus und fahre den Wagen in die Garage, sodass es für alle so aussieht, als wäre ich nicht zu Hause. Das ist sehr viel einfacher, als den eifrigen Kindern an der Tür zu sagen, dass ich keine Süßigkeiten für sie habe. Kinder werden traurig, wenn man ihnen so etwas sagt, und das ist schwer genug. Manche Erwachsene werden sogar richtig böse. Das kann ich nicht gebrauchen.
Kyle, denke ich, feiert Halloween in Laurel bei seinen Großeltern. Ich habe durch einen schmalen Schlitz im Vorhang beobachtet, wie er früher am Tag mit seiner Übernachtungstasche zum Auto ging, begleitet von Donna in ihrer Schwesterntracht. In Jay L. Lambs Vereinbarung stand nichts darüber, dass ich meine Freunde vom Wohnzimmerfenster aus nicht beobachten darf, und selbst wenn, möchte ich gern sehen, wie er beweisen will, dass ich dagegen verstoßen habe.
Die heutige Folge von
Polizeibericht
, die elfte der ersten Staffel, heißt »Überfall auf einen Polizisten« und ist eine meiner Lieblingsfolgen. Das erste Mal ausgestrahlt wurde sie am 30. März 1967.
In dieser Folge untersuchen Sergeant Joe Friday und Officer Bill Gannon die Schießerei auf einen Polizeibeamten, aber sie werden von zwei Dingen behindert: Der Polizist, der die Schießerei überlebt hat, kann sich nicht mehr erinnern, was passiert ist. Außerdem gibt es keine Augenzeugen.
Sergeant Joe Friday und Officer Bill Gannon bleiben über viele Monate an dem Fall dran, sammeln nach und nach Hinweise und Beweismaterial über den Schützen und seine Kumpane. (Ich liebe das Wort »Kumpan«.) Schließlich erfährt Sergeant Joe Friday von einem seiner Informanten, wo sich die Männer aufhalten. Sergeant Joe Friday und Officer Bill Gannon überraschen sie in einem billigen Motel und nehmen sie in Gewahrsam. Es gibt immer noch keinen Augenzeugen, der die Männer identifizieren kann. Aber Sergeant Joe Friday hat eine Idee.
Er lässt den Polizisten, der immer noch unter Amnesie leidet, die Uniform anziehen und an der Tür stehen, während die Männer befragt werden. Da sie dachten, sie hätten ihn erschossen, bekommen sie nun Angst, dass er sie identifizieren könnte, und gestehen die Schießerei. Und wieder einmal hat Sergeant Joe Friday die Bösen gefasst.
Ich wäre glücklich, wenn ich mich nicht an diejenigen erinnern könnte, die mir etwas weggenommen haben.
Heute Nacht brauche ich einen neuen grünen Aktenordner.
Liebe Mutter,
obwohl du Dich bei mir entschuldigt hast und ich Dir die Ereignisse von heute verziehen habe, habe ich das Gefühl, Dir erklären zu müssen, dass es vieles über Deinen nun verstorbenen Ehemann, meinen Vater, gibt, was Du entweder nicht weißt oder aber nicht wissen willst.
Ich denke mir diese Sachen nicht aus. Du magst der Meinung sein, dass Vater den Mond in den Himmel gesetzt hat – wasnur eine Redewendung ist, da niemand physisch dazu in der Lage ist, tatsächlich den Mond in den Himmel zu setzen. Aber meine Erinnerungen drehen sich hauptsächlich darum, wie ich von ihm ins Abseits gedrängt werde und unfähig bin, ihn zufriedenzustellen. Das macht mich jetzt, da ich ihn nie mehr wiedersehen werde, sehr traurig.
In Jay L. Lambs Zitat in dem Artikel im
Herald-Gleaner
steht »Maureen und die Familie«. Ich sollte nicht darauf hinweisen müssen, dass »die Familie« ich bin. Jetzt sind es nur noch Du und ich. Vater ist tot. Und obwohl ich weiß, dass Du in der Leugnungs- und Isolationsphase der Trauer bist, hoffe ich, dass Du stark sein kannst. Ich wäre gern Dein Freund und Dein Sohn. Für Vater konnte ich nur eins von beiden sein.
Es grüßt Dich Dein Sohn
Edward
SAMSTAG, 1. NOVEMBER
Am zweiten Tag meines Lebens ohne meinen Vater, dem 306. Tag des Jahres (weil es ein Schaltjahr ist), findet die Beerdigung statt. Dieser seltsame Brauch ist es, der mir als Erstes in den Kopf kommt, als ich um 7:42 Uhr aufwache. Warum beerdigen wir die Verstorbenen? Woher stammt diese Tradition?
Ich habe das Glück, in einer Zeit zu leben, in der ich eine Antwort auf solche Fragen einfach dadurch erhalte, dass ich aus dem Bett steige und ins nächste Zimmer gehe. Wenn man das Wort »Tod« in eine
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