600 Stunden aus Edwards Leben
warme Farben, Tapeten im alten Stil, gerahmte Bilder mit bukolischen (ich liebe das Wort »bukolisch«) Landschaften an den Wänden. Ich kann erkennen, dass bei der Dekoration dieses Raumes meine Mutter ihre Hände im Spiel hatte. Meine Mutter gehört zu den Menschen, die wollen, dass ein Gast sich wohlfühlt. Mein Vater gehörte zu den Menschen, die wollen, dass ein Gast seine neuesten Golfschläger bewundert.
Ich lege mich aufs Bett und schließe die Augen, und kurz darauf drifte ich in einen spätnachmittäglichen Schlaf.
»Edward. Edward, wach auf.« Meine Mutter rüttelt mich an der Schulter. »Edward.«
Mein Kopf fühlt sich an wie mit Sand gefüllt, und ich habe Mühe, meine Augen scharf zu stellen.
»Edward, wach auf.«
»Ich bin wach. Wie spät ist es?«
»Sechs.«
Ich sehe auf meine Uhr und warte, dass die digitalen Ziffern klar werden. Es ist 17:57 Uhr.
»Edward, wir wollen gleich ein paar kurze Ansprachen für deinen Vater halten. Du solltest runterkommen.«
Das klingt absolut grauenvoll, aber ich steige aus dem Bett.
»Ich bin gleich unten.«
Bis ich es geschafft habe, mich wieder ordentlich zurechtzumachen – das im Schlaf herausgerutschte Hemd zurückzustecken, mein Haar anzufeuchten und glatt zu streichen, gut und ausgiebig zu pinkeln – und nach unten zu stapfen, haben die Ansprachen bereits begonnen. Gerade ist Jay L. Lamb an der Reihe.
»Ted Stanton war nicht nur mein Klient. Er war mein bester Freund. Ich wusste immer, woran ich bei ihm war, seinem Instinkt konnte ich jederzeit vertrauen, und ich konnte mich immer auf ihn verlassen. Ted, ich weiß, du bist jetzt an einem besseren Ort. Du wirst mir fehlen, Kumpel.«
Einer nach dem anderen stehen die Kollegen meines Vaters auf und geben Erinnerungen zum Besten.
Manche sind lustig:
»Es muss 1994 oder 95 gewesen sein«, erzählt Craig Hashbarger, »und der gute alte Ted kannte den Dompteur des Zirkus’, der gerade in der Stadt war – zum Teufel, Leute, ihr wisst ja, dass Ted fast jeden im ganzen verdammten Land kannte –, und er überredete den Kerl, ihn einen Löwen zur Landratssitzung mitnehmen zu lassen. Da sagte Ted dann: ›Ich möchte, dass ihr meinen neuen Berater kennenlernt. Alles, was ihr mir sagen wollt, müsst ihr erst einmal ihm sagen.‹«
Gelächter wogt durch den Raum.
»Und bei Ted war das ja so, dass er es durchaus ernst gemeint haben könnte.«
Mehr Gelächter.
Manche sind anrührend:
»Als Mary krank wurde, waren Ted und Maureen immer für uns da und gaben uns, was wir brauchten, oft, bevor wir wussten, dass wir es brauchten«, sagt James Grimes, einer der größten Bauunternehmer der Stadt. »Er charterte auf eigene Kosten einen Jet und flog für einen letzten Rettungsversuch mit uns nach Seattle. Ich glaube nicht, dass wir auf andere Weise noch eine Chance gehabt hätten – so schlimm stand es damals. Einen besseren Freund habe ich nie gehabt.«
Manche sind selbstgefällig, wie Dr. Buckley sagen würde:
»Ted hat immer gesagt, ich sei verrückt, Bürgermeister werden zu wollen, und oft denke ich, er hatte recht«, sagt Kevin Hammel. Es ist in Billings wohlbekannt, dass Bürgermeister Hammel ein Emporkömmling ist. Im Rennen um höhere Ämter, die ihm mehr Geld und Macht einbringen würden, hat er schon mindestens sechs Niederlagen einstecken müssen. Wie es scheint, ist das einzige politische Rennen, das er gewinnen kann, das um den Bürgermeisterposten von Billings – vielleicht, weil man hier denkt, man habe ihn so am besten unter Kontrolle und er könne nicht allzu viel Schaden anrichten.
»Vielleicht hat er mir nun also ein weiteres Geschenk gemacht, indem er seinen Platz als Landrat freigab …«
Ein Stöhnen geht durch den Raum, und obwohl ich nicht zuordnen kann, woher es kommt, höre ich: »Setz dich, Kevin« und »Bringt diesen Kerl zum Schweigen«.
Als die Trauerreden offenbar alle gehalten sind, tritt meine Mutter vor. »Ich möchte, dass ihr alle wisst, wie viel uns eure Liebe und Unterstützung in diesem Moment bedeuten. Wir«, und dabei sieht sie mich an und lächelt, »können uns glücklich schätzen, euch alle zu kennen, und Ted hatte Glück, solche Freunde zu haben. Danke vielmals für eure lieben, bewegenden Worte.«
Und dann versetzt meine Mutter mir einen Schock, denn sie verkündet tatsächlich laut vor all diesen Leuten: »Edward, bitte sag doch auch ein paar Worte.«
Mein Blick fällt auf Jay L. Lamb, und er sieht aus, als wollte er ein Loch in den
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