61 - Der verlorene Sohn 02 - Der Schmugglerkönig
der über eine Stunde entfernten größeren Stadt in Verbindung stand.
Eine Glocke läutete, zum Zeichen, daß die Schicht zu Ende sei. Im Förderhaus wurde der Personenfahrstuhl mit der Maschine gekoppelt, und bald entstiegen dem schwarzen Schlund eine Menge dunkler, rußgeschwärzter Gestalten, welche von Mitternacht an bis jetzt in der gefährlichen Tiefe im Schweiße ihres Angesichts gearbeitet hatten, um an der Oberwelt ihr armes, anspruchsloses Leben fristen zu können. Andere fuhren an ihrer Stelle nieder.
In jener Gegend wohnen gottesfürchtige Leute. Die dem Schacht Entstiegenen sammelten sich um den Steiger und falteten auf ein von ihm gegebenes Zeichen die Hände. Er sprach ein kurzes, aufrichtig gemeintes Dankgebet, daß Gott sie während der zwölfstündigen Schicht beschützt hatte, und dann sangen sie nach der bekannten Melodie die Strophe:
„Was Gott tut, das ist wohlgetan;
So wollen wir stets schließen.
Ist gleich bei uns kein Kanaan,
Wo Milch und Honig fließen,
So wird von Gott doch unser Brot
Zur Genüge dem bescheret,
Der ihm traut und ihn ehret.“
Als der fromme Gesang beendet war, begaben sich die Leute zum Zahlmeister, um ihren Wochenlohn in Empfang zu nehmen. In seine Expedition durfte man nur einzeln eintreten. Durch die Anwesenheit mehrerer hätte ihm der Raum ja beschmutzt werden können. Er war ein wortkarger, menschenfeindlicher Mann, von dem noch niemand eine freundliche Silbe gehört hatte. Er pflegte jedem Eintretenden den kargen Lohn schweigend hinzuschieben und dann durch einen kurzen, barschen Wink das Zeichen der Entfernung zu geben. Darum war es befremdend, daß er heute die Arbeiter, bevor sie ihn der Reihe nach verließen, aufforderte, draußen vor dem Haus zu warten, da er ihnen eine Eröffnung zu machen habe.
Draußen war es bitterkalt. Der Schnee lag über eine Elle hoch und fiel noch immer in dichten, scharf schneidenden Flocken nieder. Die Leute zitterten vor Frost. Ihre armselige Kleidung war nicht geeignet, ihnen Schutz zu gewähren. Hätte nicht der häßliche Kohlenstaub ihre Gesichter bedeckt, so wäre es ihnen leicht anzusehen gewesen, daß auch ihre Ernährung nicht geeignet sei, sie gegen die Unbilden des Winters widerstandsfähiger zu machen.
Endlich trat er heraus zu ihnen. Er sagte:
„Ich habe auch im Auftrag des Herrn Barons von Helfenstein zu eröffnen, daß er von jetzt ab pro Schicht und Mann zehn Kreuzer weniger zahlt. Es ist Winter; die Konkurrenz erschwert den Absatz, und die Betriebskosten werden immer bedeutender. Das ist's, was ich euch bekanntgeben soll.“
Die Leute blickten sich untereinander bestürzt an. Ein leises Flüstern ging durch ihre Reihe, und dann meinte einer von ihnen, der vielleicht der Älteste sein mochte:
„Herr Zahlmeister, Sie haben uns da sehr erschreckt. Wissen Sie noch, wieviel ich heute erhalten habe?“
„Ja; drei Gulden“, antwortete der Beamte.
„Drei Gulden für eine Woche! Drei Gulden für eine vierundachtzigstündige Arbeitszeit unter der Erde! Drei Gulden für sieben zwölfstündige Schichten, während denen ich, wie wir ja alle, in steter Todesgefahr geschwebt habe!“
„Ist dir's nicht genug, so suche anderweit Arbeit!“
„Das kann ich nicht! Sie wissen das nur zu gut, Herr Zahlmeister. Es gibt hier nur Weber und Kohlenbergleute. Zum Weben sind meine Augen zu schwach, und dieses Bergwerk ist das einzige in der weiten Umgegend. Ich muß bleiben!“
„So räsoniere also auch nicht!“
„Ich räsoniere nicht; aber ich denke an die acht Personen, welche ich mit drei Gulden zu erhalten habe. Nun sollen für die Woche gar siebzig Kreuzer weniger gezahlt werden. Herr, wir hungern bereits, wir hungern und frieren! Was soll nun weiter mit uns werden?“
„Das ist mir gleichgültig. Ich habe meine Pflicht zu tun. Ich soll euch den Befehl des Herrn Barons mitteilen, und ich habe es getan. Wer nicht einverstanden ist, der braucht nicht wiederzukommen. Ich finde Arbeiter genug!“
Bei diesen Worten drehte er sich um und trat in das Haus zurück, die Tür hinter sich zuziehend.
Die Leute aber besprachen leise und grollend die Neuigkeit und wateten dann in einzelnen Gruppen durch den tiefen, knirschenden Schnee dem Städtchen zu.
Dieses letztere bestand aus niedrigen, ärmlich dreinschauenden Häusern. Es gab nur zwei Gebäude, welche ein besseres Aussehen hatten, nämlich das Pfarrhaus und dann ein anderes, welches auch nicht weit von der Kirche stand und über dessen Tür an einer Marmortafel in
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