61 - Der verlorene Sohn 02 - Der Schmugglerkönig
getränket hat.
Seine Güte sei gepreiset.
Er wird ferner unserm Leben
Speis und Trank und Notdurft geben.“
Er war fertig und wollte bereits die gefalteten Hände auseinandernehmen, da aber fuhr der Alte fort:
„Reiche Deine milde Hand,
Liebster Vater, auch den Armen.
Laß den kümmerlichen Stand
Immer unser Herz erbarmen,
Daß wir ihnen einen Segen
Nach Vermögen reichen mögen,
Bis wir himmlisch Manna speisen
Und dich ewig selig preisen!“
Der Beter hatte die Augen voller Tränen. Als er geendet hatte, streckte er dem Weber die hagere Rechte entgegen und sagte:
„Vorhin habe ich gemeint, daß ich seit heute noch nicht gegessen hätte, Gevatter; aber ich will dir nun gestehen, daß bereits seit vorgestern abend nichts über meine Lippen gekommen ist.“
„Guter Gott!“ rief da der Weber. „Mutter, schneide ihm doch ein Stück Brot ab!“
Die Frau hustete verlegen und antwortete dann:
„Das Brot ist alle, Vater.“
„Haben wir gar kein bißchen mehr?“
„Gar nichts.“
Da warf er ihr einen Blick zu, welchen sie sofort verstand. Sie warf ein Tuch über den Kopf und entfernte sich. Nach einer kleinen Weile kam sie wieder. Sie war bei dem nahen Bäcker gewesen und hatte ihre letzten vier Kreuzer, welche für Kohlen bestimmt gewesen waren, hingegeben, um dem alten Gevatter ein Stück Brot zu holen.
Der Alte drückte die Hände der braven Frau an seine Brust und rief:
„Vergelt's Euch Gott! Aber nehmen kann ich es doch nicht. Eure Kleinen da brauchen es ebenso notwendig wie ich.“
„Nimm und iß es!“ gebot aber Hauser. „Wir haben zwar jetzt nichts mehr; aber in der Dämmerung geht der Eduard mit den vier Stücken, welche fertig werden, zum Seidelmann. Da bekommen wir viel Geld und können alles kaufen, was wir brauchen. Du jedoch hast keine Aussicht, Geld zu verdienen.“
„Guter Gott, das ist wahr!“ seufzte der Alte, indem er hungrig in das Brot biß. „Früher war es anders. Da war ich der einzige Barbier und Bader der Umgegend. Jetzt sind andere da, und meine Hand zittert so sehr, daß ich das Messer unmöglich mehr führen kann. Die Zeiten sind immer schlechter geworden und die Menschen mit ihnen. Wißt Ihr schon, was in letzter Nacht passiert ist?“
„Nein. Ist's etwas Neues?“
„Etwas ganz Neues und ganz Grauenhaftes! Der Förster ist im Wald gewesen, heute früh, trotz des Wetters. Sein Hund bleibt bei einer Schneewehe stehen und ist nicht fortzubringen. Und als der Förster die Wehe untersucht, findet er, daß eine Leiche unter ihr begraben liegt.“
„Herrgott! Eine Leiche? Ein Erfrorener?“
„Nein, sondern ein Ermordeter.“
Auf dieses Wort folgte das Schweigen des Entsetzens. Eduard fand zuerst die Sprache wieder. Er fragte:
„Wer ist denn der Ermordete gewesen?“
„Der Grenzoffizier, der Leutnant.“
„Der Leutnant? War er etwa erschossen?“
„Ja. Die Kugel ist ihm durch den Kopf gegangen.“
„So sind es die Pascher gewesen!“
„Der Waldkönig selber ist's gewesen!“
„Woher weißt du das?“
„Der Ermordete hat einen Zettel in der Hand gehabt, den ihm der Waldkönig hineingesteckt hat. Darauf stand geschrieben, daß es einem jeden so gehen werde, der sich um die Pascher bekümmert.“
„Das ist ja ganz und gar entsetzlich!“ meinte die Hausfrau.
„Ja“, stimmte der Alte bei. „Und am Morgen ist einer der Grenzaufseher in der Schenke gewesen und hat erzählt, daß in der vergangenen Nacht ein Zug von über dreißig Schmugglern über die Grenze geschlüpft ist. Die Beamten haben sich gar nicht an so viele wagen können.“
„Wer nur der Waldkönig sein mag?“
„Das weiß niemand, und niemand wird es erfahren. Der leibhaftige Gottseibeiuns muß es sein, kein anderer! Aber ich muß nach Hause. Ihr habt zu arbeiten, und ich darf nicht stören. Habt tausend Dank, ihr guten Leute!“
Er reichte allen die Hand und ging. Hauser begleitete ihn nach guter alter Sitte bis unter die Haustür. Gerade als sie dort standen, kam ein zweispänniger Schlitten vorübergefahren. Ein tief in seinen Pelz gehüllter Mann saß in demselben.
„Ein Fremder“, meinte der Alte. „Wer mag das sein?“
„Hast du ihn denn nicht erkannt, Gevatter?“
„Nein. Wer war es?“
„Der Bruder des Kaufmanns.“
„Der Fromme? O weh! Wenn der in den Ort kommt, gibt es allemal ein Unglück. Leb wohl, Gevatter!“
Er ging. –
Als Engelchen vorhin in die Stube getreten war, stand ihr Vater am Tisch, um ein Stück Webearbeit, welches er gefertigt hatte, zu
Weitere Kostenlose Bücher