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616 - Die Hoelle ist ueberall

Titel: 616 - Die Hoelle ist ueberall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Zurdo
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hatte sie belogen. Da gingen Adam und Eva die Augen auf. Der Schleier, der sie zu sehen hinderte, fiel. Sie verspürten Angst und Scham. Sie verloren ihren Halt. Und Gott sprach die rätselhaften Worte: »Seht, der Mensch ist geworden wie wir.« Aber wen meinte er damit?
    Gott hatte gelogen …
    Abrupt hielt Cloister inne.
    »Gott hat gelogen?«, fragte er sich forschend, und sein Tonfall spiegelte seine Verblüffung und seine Ungläubigkeit wider. Die Verblüffung und die Ungläubigkeit eines Menschen, der sich gerne irren würde, aber sich nicht dazu im-stande sieht.
    Die Genesis war eine symbolhafte Geschichte. Jeder Theologe wusste das. Nur Menschen mit einem schlichten Gemüt hielten sie für historische Realität. Das Wichtigste lag in der Bedeutung. Und die Bedeutung war just … dass Gott gelogen hatte.
    Der Priester atmete tief durch. Er spürte eine Beklemmung in der Brust, und seine Miene drückte einen Abscheu aus, wie er ihn bei sich nicht für möglich gehalten hätte. Das Wesen hatte recht. Cloister war zutiefst erschrocken. Heiß wie eine Flamme loderte die Angst in seinem Kopf auf. Ein Summen ließ seine Trommelfelle von innen her vibrieren. Die Texte, von denen das Wesen gesprochen hatte, lagen ihm in Boston nicht vor, daher ging er ins Internet und tippte die Adresse einer Seite ein, auf der sämtliche bisher bekannten apokryphen Texte versammelt waren, darunter auch die Schriftrollen vom Toten Meer und die Nag-Hammadi-Schriften. Ein bitteres Lächeln huschte über sein Gesicht, als ihm etwas einfiel, was kaum ein Christ wusste: Auch das Jo-hannesevangelium wäre beinahe als Apokryph eingeordnet worden. Die Grenze zwischen apokryph und nicht apokryph verlief fließend. Selbst die Bibeln der verschiedenen christlichen Kirchen unterschieden sich in einigen ihrer Bücher, und von manchen hieß es, sie stünden dem Apokryphen sehr na-he. Was das Neue Testament betraf, so waren das Leben Jesu und die spätere Herausbildung der ursprünglichen christlichen Kirche alles andere als exakte Berichte. Über Jesus selbst wuss-te man sehr wenig mit absoluter Sicherheit. Es war bereits behauptet worden, er sei nicht in Bethlehem geboren, er sei reich gewesen, sei ägyptischer Abstammung gewesen, sei nach Persien, Indien und Tibet gereist, sei ein Rivale Johannes’ des Täufers gewesen und habe ihn aus dem Felde geschlagen, er sei mit Maria von Magdala verheiratet gewesen, und man hatte sogar schon behauptet, er sei gar nicht am Kreuz gestorben und somit auch nicht wiederauferstanden. Tatsächlich wollte man sein vermeintliches Grab schon an den unwahr-scheinlichsten Orten ausfindig gemacht haben, von Jerusalem über Rozabal in Kaschmir bis zum japanischen Shingo.
    Während Cloister diesen Gedanken nachhing, lud er die apokryphen Evangelien des Nikodemus und des Thomas als PDF-Dokumente auf seinen Laptop herunter. Er kannte sie flüchtig, doch er hatte keins von beiden je sorgfältig studiert. Nun las er das Nikodemusevangelium auf der Suche nach »Schlüsseln« durch. Bald fand er eine Stelle, die sehr wohl ein solcher Schlüssel sein mochte. Es waren Sätze Satans in der Hölle. Da hieß es:
     
    Da gibt es einen aus dem Judenvolk, der Jesus heißt und sich Gottes Sohn nennt. Er ist aber nur ein Mensch, und auf mein Betreiben hin haben ihn die Juden gekreuzigt. Und da er jetzt tot ist, so sei in Bereitschaft, damit wir ihn hier einsperren. Denn ich weiß, dass er nur ein Mensch ist, und ich habe ihn klagen hören: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod.
     
    Hatte Jesus etwa Angst vor dem Tod gehabt? Hatte er dem Vater etwa nicht vertraut? Vielleicht hatte er nicht gewusst, dass er Gottes Sohn war? Cloister verstand die Passage so, dass Jesus nicht etwa Angst vor dem Tod, sondern nur vor der Todesart gehabt hatte. Die Kreuzigung war eine schreckliche Hinrich-tungsmethode gewesen. Die alten Römer hatten gewusst, wie man Verbrecher abschreckt. Es hatte durchschnittlich länger als einen Tag gedauert, bis ein Verurteilter tot war. Bis dahin litt er unvorstellbare Todesqualen, versuchte, sich mit den Füßen abzustützen und aufzurichten, seine Arme zu belasten, um ein wenig Luft zu bekommen und nicht zu ersticken, wissend, dass das Ende unausweichlich war. Eine sehr grausame Art zu töten, typisch für jene grausame Welt und Zeit.
    Der Priester las weiter, beendete das Nikodemusevangelium und begann mit dem Kindheitsevangelium des Thomas. Dies war wirklich ein verblüffender Text. Der kleine Jesus darin war von

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