616 - Die Hoelle ist ueberall
wilder Grausamkeit, hatte ein loses Mundwerk und kannte seinen Mitmenschen und den übrigen Einwohnern von Nazareth gegenüber keine Gnade. Sein »Lieblingsspiel« bestand darin, alle, die sich mit ihm angelegt hatten, kurz darauf sterben zu lassen. Es wirkte eher wie die Kindheit Satans als wie die ersten Jahre Jesu.
Der Sohn des Schriftgelehrten Annas aber stand dort bei Joseph; er nahm einen Weidenzweig und brachte damit das Wasser, das Jesus zusammengeleitet hatte, zum Abfließen. Als Jesus sah, was geschah, wurde er aufgebracht und sprach zu ihm: Du Frecher, du Gottloser, du Dummkopf, was haben dir die Gruben und das Wasser zuleide getan? Siehe, jetzt sollst auch du wie ein Baum verdorren und weder Blätter noch Wurzel, noch Frucht tragen. Und alsbald verdorrte jener Knabe ganz und gar. Da machte Jesus sich davon und ging in das Haus Josephs. Die Eltern des Verdorrten aber trugen diesen, sein Jugendalter beklagend, weg, brachten ihn zu Joseph und machten ihm Vorwürfe: Solch einen Knaben hast du, der so etwas tut.
Hernach ging er abermals durch das Dorf; da stieß ein heranlaufender Knabe an seine Schulter. Jesus wurde erbittert und sprach zu ihm: Du sollst auf deinem Weg nicht weitergehen! Sogleich fiel der Knabe hin und starb. Einige aber, die sahen, was geschah, sagten: Woher stammt dieser Knabe, dass jedes Wort von ihm gerade fertige Tat ist? Da kamen die Eltern des Verstorbenen zu Joseph, schalten ihn und sagten: Da du so einen Knaben hast, kannst du nicht mit uns im Dorfe wohnen; oder dann lehre ihn, zu segnen und nicht zu fluchen. Denn er tötet unsere Kinder.
Da rief Joseph den Knaben beiseite und wies ihn mit den Worten zurecht: Warum tust du solche Dinge, dass diese Leute leiden müssen, uns hassen und verfolgen? Jesus aber antwortete: Ich weiß, dass diese Worte nicht die deinen sind, trotzdem will ich deinetwegen schweigen. Jene aber sollen ihre Strafe tragen. Und alsbald erblindeten die, wel-che ihn angeklagt hatten.
Der Jesuit verstand die Welt nicht mehr … Ein Jesus, der Angst vor dem Tod hatte und als Kind ausgesprochen grausam gewesen war. Was hatte das eine mit dem anderen zu tun? War Jesus die Inkarnation des Bösen? Cloister hätte mittlerweile fast alles geglaubt. Vielleicht begann er ja allmäh-lich, Zusammenhänge zu verstehen, die ihn zu der ersehnten Wahrheit führen würden? Doch nein, Jesus konnte nicht das genaue Gegenteil dessen sein, was er immer geglaubt hatte … Wenn er wahrhaft verstehen wollte, musste er wagen, zu denken, seinen Geist zu öffnen. Musste ihn wirklich sperrangelweit öffnen. Manchmal verknüpfen die Fäden der Wahrheit sich von selbst. Allerdings würde es sein, als träte er an den Rand einer Steilküste und blickte in die Tiefe. Doch der Schwindel hebt den Reiz der Gefahr nicht auf. Cloister wusste, kein Abgrund konnte tief genug sein, um ihn zu bremsen.
Der mythische gordische Knoten konnte nicht verworrener und schwieriger zu lösen gewesen sein als das Rätsel, das Albert Cloister hier lösen musste. Doch jeder Knoten kann zerschlagen werden – Alexander der Große hatte es vorge-macht.
»Ihn zerschlagen! Ihn zerschlagen! Aber wie …?«
Die bisher stumme Verwirrung des Priesters hatte sich in diesem Schrei einen Weg an die Oberfläche gebahnt. Er war nervös und schwitzte stark. Seine Hände zitterten. Erneut überflog er die beiden Texte … Jesus hatte Angst davor ge-habt, am Kreuz zu sterben, und war in seiner Kindheit grausam und böse gewesen. Angst, immer wieder Angst. Das Böse ist ein Kind der Angst. Der Hochmut, der Neid, die Eitelkeit … All das, was Luzifer veranlasst hatte, sich gegen Gott zu erheben.
Sich gegen Gott zu erheben.
Dieser Gedanke führte unmittelbar zum nächsten. Bei mehreren aufeinanderfolgenden Tonaufnahmen hatte Cloister Antworten auf einige seiner Fragen erhalten; doch nur auf solche, die das Wesen beantworten wollte. Und diese Antworten bildeten nicht gerade eine solide Wissensbasis.
Unvermittelt erinnerte er sich an Audrey Barrett. Was mochte das Wesen ihr bei dem Exorzismus ins Ohr geflüstert haben? Das hatte es ihm nicht offenbaren wollen.
Der Schlüssel lag im Verschwinden von Dr. Barrett. Das war nun klar. Er musste sie finden, gleichgültig, wo sie war. Sie hatte bei Daniels Exorzismus die Puzzleteilchen erhalten, die zur Auflösung des Rätsels vonnöten waren. Die schrecklichsten Wahrheiten werden einem immer ins Ohr geflüstert. Doch Dr. Barrett kannte ihre wahre Rolle in diesem so realen
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