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616 - Die Hoelle ist ueberall

Titel: 616 - Die Hoelle ist ueberall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Zurdo
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gebeugt, sehr langsam und unter großen Schwierigkeiten. Die Jahre der Gefangenschaft in einer kleinen Zelle hatten einen hohen Tribut von seinem Körper gefordert. Jeder Schritt war eine Qual. Doch er wollte sein Tagebuch holen. Er war sehr stolz auf sein Tagebuch und wollte es ihr zeigen. Auf der letzten Stufe vom Haus in den Garten stöhnte er vor Schmerzen. Das Stöhnen war kaum zu hören, denn sein Mund war zugenäht wie der der übrigen Kinder. Er ging weiter und entfernte sich in seiner mitleiderregenden Gangart vom Haus. Zum Glück war die Frau, die ihn aus dem Keller befreit hatte, nicht weit.
    Es war Eugene, der sich nun neben seine Mutter setzte. Sie lag auf dem Boden, auf dem Rasen. Die Wunde in ihrer Brust blutete stark. Ihr Atem ging rasselnd und verursachte ein bro-delndes Geräusch. Doch sie spürte keine Schmerzen mehr. Alles war gut. Ihr geliebter Sohn Eugene war wieder an ihrer Seite.
    Audreys Glück war nicht ungetrübt. Es zerriss ihr das Herz, als sie erneut den Mund ihres Sohnes sah, der mit einem gro-ben Faden zugenäht war, den sie nicht einfach herausreißen durfte, so gerne sie es gewollt hätte. Die Schlechtigkeit des Menschen kennt keine Grenzen. Niemand wusste das besser als Eugene.
    Audrey sah, dass er ihr ein Heft hinhielt. Sie begriff, dass ihr Sohn ins Haus zurückgekehrt war, um es zu holen und es ihr zu zeigen. Die Seiten waren mit Zeichnungen gefüllt. Im Licht des beinahe vollen Mondes konnte sie einige davon erkennen.
    »Sie sind … wunderschön … Eugene«, sagte Audrey mit übermenschlicher Anstrengung.
    Der Junge sah sie an, und Audrey hätte schwören können, dass sie in seinen abwesenden Augen ein Lächeln aufkeimen sah. Alles würde gut werden. Eugene würde sich erholen. Eines Tages würde er wieder sprechen können. Und lachen.
    Audrey fiel etwas ein, und nun war sie diejenige, die lä-chelte und dabei blutbeschmierte Zähne zeigte.
    »Seh-Schrank«, sagte sie. »Deine … Gesch-Geschenke … sind … im … Schrank.«
    Eugene wusste nicht, was seine Mutter meinte. Er konnte nicht wissen, dass zu Hause ein Schrank voller Geschenke auf ihn wartete – die Geschenke sämtlicher Geburtstage und Weihnachtsfeste, die Maxwell ihm geraubt hatte. Eugene gab ihr das Heft mit seinen Zeichnungen. Dies war das Geschenk, das er all die Jahre des Leids hindurch für sie aufbewahrt hatte.
    Ein Geräusch, von dem Audrey nichts mitbekam, erregte Eugenes Aufmerksamkeit. Sein schmaler Körper erstarrte, und schon brüllte eine Stimme: »Audrey! Audrey, bist du das?«
    Der Feuerwehrmann sah nur ein dunkles Bündel, einen Schatten inmitten von anderen Schatten. Dennoch wusste er, dass dies die Frau war, die er gesucht hatte. Als er bei ihr an-kam, erkannte er im silbrigen Licht des Mondes, dass sie nicht allein war. Ein Junge kniete neben ihr. Wie bei den Gefangenen im Keller war auch sein Mund zugenäht. Doch bei sei-nem Anblick verspürte Joseph kein Grauen, nur eine tiefe Zärtlichkeit.
    »Das … ist … mein … Sohn … Eugene«, flüsterte Audrey.
    Joseph kniete sich neben sie. Die Nacht verbarg den unheilvollen scharlachroten Flecken auf Audreys Schulter und Brust. Sie war schwerverletzt. Doch den Mann, den Joseph gefunden hatte, nachdem er die Polizei angerufen hatte, hatte es noch schlimmer erwischt. Das musste Maxwell sein. Er lag tot in einer Blutlache in einem Zimmer im Obergeschoss, das Joseph eisige Schauder über den Rücken jagte, weil es wie ein Kinderzimmer wirkte, aber keines war. Da begriff Joseph, was die Ursache von Audreys Leid gewesen war, der Grund für die undurchdringliche Wand, die die Psychiaterin um sich herum errichtet hatte.
    »Alles wird gut, Audrey, du wirst sehen.«
    »Versprich mir …« – ein ungesundes, feuchtes Husten unterbrach sie. »Versprich mir … dass du … dich um ihn küm-merst … an meiner Stelle.«
    »Wir kümmern uns beide um ihn«, erwiderte Joseph mit einem Knoten in der Kehle. »Du und ich, Audrey. Gib jetzt bitte nicht auf.«
    »Versprich … es mir.«
    Joseph sah sie zärtlich und besorgt an. Erste Tränen liefen ihm über die Wangen. Er merkte es erst, als Eugene den Arm ausstreckte und ihm mit seinen langen knochigen Fingern die Tränen abwischte. Ein Kind, das Unaussprechliches erlitten hatte, dem man den Mund zugenäht hatte und das aussah wie ein Gespenst, versuchte, ihn zu trösten. Ihn. Einen abgehärte-ten Bostoner Feuerwehrmann.
    Nun weinte er richtig. Er hätte Eugene gerne umarmt und ihn ein wenig von der Zuneigung

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