616 - Die Hoelle ist ueberall
die Zeilen sind immer gerade – das Schiefe ist das, was darin geschrieben wird! Meine Schrift ist verschlungen, holprig, kraus. Wer Ohren hat, zu hören, der höre. Wer … Mut hat, der höre. Ich gebe dir die Buchstaben, aber du musst sie zu Sätzen zusammensetzen! Meine Buchstaben sind düste-re Buchstaben. Buchstaben des Schmerzes und der Verzweiflung. Vor allem Verzweiflung. Ist die Hölle überall?, fragst du dich. Aber du verstehst den eigentlichen Sinn dieses Satzes nicht, und ich werde ihn dir nicht verraten. Du würdest mir nicht glauben, weil du mir nicht glauben könntest. Nicht einmal der Tod kann diese große Wahrheit auslöschen. Du wirst die Wahrheit selbst entdecken müssen. Die Wahrheit mit den feurigen Buchstaben.«
Als der Priester diese Aufzeichnung abhörte, lief ihm ein eisiger Schauder über den Rücken, und er bekam eine Gänsehaut.
Er biss die Zähne zusammen. Schon vor einiger Zeit hatte der solide Marmorblock, in den er sich bei seinen Ermittlungen stets verwandelte, erste Risse bekommen. Aber er konnte nicht einfach davonlaufen und alles vergessen. Er wollte es auch gar nicht. Nun, davonlaufen vielleicht schon, wenn er denn könnte, aber nicht vergessen. Vergessen, das nie.
Cloister hatte das Gefühl, sein Kopf werde gleich platzen. Seine Augen schienen kaum noch in die Höhlen zu passen, und seine Lider fühlten sich an, als wären sie aus Metall. Sein Gesicht war heiß, doch sein übriger Körper kalt. Die Adern an seinem Hals pochten im Takt seines wild schlagenden Herzens. Unfähig, seine Beklemmung abzuschütteln, packte er das Diktiergerät, schaltete es ein und schrie ins Mikrofon: »Ich spiele dein verdammtes Spiel mit! Egal, wohin es führt!«
Keuchend wartete er, bis das rote Lämpchen, das eine Aufnahme anzeigte, erlosch. Dann hörte er die Aufzeichnung ab. Cloister hatte die Bedingungen des Wesens akzeptiert. Und das Wesen hatte geantwortet.
»Das bereitet mir Genugtuung. Allerdings ist es kein Spiel. Du hast wie immer die richtige Wahl getroffen. Und wie immer wird diese Wahl dir Qualen bereiten. Lies die Genesis, das erste Kapitel. Studiere es sorgfältig und aufmerksam. Ändere deine Sichtweise. Bis-her warst du nicht in der Lage, das Offensichtliche zu verstehen, ob-wohl es eigentlich auf der Hand liegt. Du musst noch andere Texte lesen. Die, die deine Kirche die apokryphen Evangelien nennt. Sie will sie nicht anerkennen, weil sie Angst vor ihnen hat. Und darin tut sie gut, auch wenn sie nie begreifen wird, warum, noch wie groß ihre Angst sein sollte. Du jedoch wirst dieses Privileg haben. Es ge-nügt, wenn du das Nikodemusevangelium und das Kindheitsevangelium des Thomas liest. Lies zwischen den Zeilen dieser Texte. Zwischen den geraden Zeilen. Dir wird einiges Krumme auffallen. Und dann kehr zu mir zurück.«
Nachdem Cloister diese letzte Aufnahme abgehört hatte, gab es in der Krypta zunächst nichts mehr für ihn zu tun. Allmählich spürte der Jesuit die akkumulierte Anspannung als körperlichen Schmerz. Er hatte sogar das Gefühl, eine unsichtbare Hand berühre ihn. In der Stille der Krypta nahm er sein Diktiergerät und sein Notizheft, schaltete die Taschenlampe ein und die andere Lampe aus und stieg die Leiter hin-auf. Er kehrte ins Kolleg zurück, ging auf sein Zimmer und betete lange. Ein wenig entspannter nahm er dann die Bibel zur Hand und legte sich aufs Bett. Das Gebet hatte seine Sor-gen ein wenig gelindert, doch er spürte, dass seine Seele noch immer von Finsternis umgeben war. Er schlug das Buch, das ihm als heilig galt, auf der ersten Seite auf und las: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; …«
Beinahe ohne es zu merken las er Zeile um Zeile, Absatz auf Absatz. Er las, wie Gott die Welt aus dem Nichts erschuf. Wie das Licht entstand … Wie Gott danach das irdische Paradies und die beiden ersten Menschen, Adam und Eva, erschuf, sie segnete und aufforderte, fruchtbar zu sein und sich zu mehren. Gott gab ihnen Macht über alle anderen Geschöpfe, doch eins verbot er ihnen: die Frucht vom Baum der Erkenntnis im Garten Eden zu essen. Er wollte nicht, dass ihnen die Augen geöffnet würden, weil sie dann wissen würden, was Gut und Böse ist. Die Schlange – der Teufel – führte sie in Versuchung und sagte, Gott habe sie betrogen, als er ihnen gesagt hatte, sie würden sterben, wenn sie von dem Baum äßen; die Schlange sagte ihnen, sie würden nicht sterben. Und sie starben nicht. Die Schlange hatte sie in Versuchung ge-führt, aber Gott
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