616 - Die Hoelle ist ueberall
geflohen war, das Daniel gesagt hatte.
»Verzeihen Sie mir, Schwester, Sie haben recht. Ich habe die Beherrschung verloren. Falls Nolan Sie anruft, sagen Sie ihm bitte, dass ich mit ihm reden muss.«
»Das mache ich.«
»Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen, Schwester? Wissen Sie, ob Dr. Barrett Kinder hat?«
»Nein, nicht das ich wüsste. Sie hat mir gesagt, sie sei nie verheiratet gewesen, und ich habe daraus geschlossen, dass sie auch keine Kinder hat. Aber natürlich … O mein Gott! Sie fragen wegen dieser armen Kinder …«
»Genau.«
»Ich weiß nur – und das könnte Sie vielleicht interessieren –, dass Audrey ihre ganze Kindheit mit ihren Eltern in New London verbracht hat. Als ihr Vater starb, zogen sie und ihre Mutter nach Hartford, um die Lebenshaltungskosten zu sen-ken, in ein altes Haus, das ihre Mutter besaß.«
»Vielen Dank, Mutter Victoria.«
Die Nonne verabschiedete sich von Cloister. Doch ehe sie auflegte, sagte sie etwas, das sie ihm bei ihrer ersten Begegnung bereits so ähnlich gesagt hatte: Es seien schreckliche, finstere Kräfte am Werk. Das habe sie immer schon vermutet. Cloister erwiderte nichts darauf, doch er wusste, dass sie mit ihren Worten ins Schwarze traf. Mehr als sie ahnte.
35
Boston
Jeder Psychologe, jeder Parapsychologe, jeder, der sich mit paranormalen Vorfällen beschäftigt, weiß, dass geistig Behinderte einen sechsten Sinne besitzen, der sie empfänglich macht für Okkultes, für Visionen und anderes, das nicht für jeden sichtbar ist. Es ist, als hätte ihr Gehirn eine besondere Antenne, die nicht so mit Eindrücken »bombardiert« wird wie die Sinnesorgane der sogenannten normalen Menschen. Das Gehirn ist ein großes Rätsel. Musikalische Genies wie Mozart können in gewisser Hinsicht behindert sein. Dasselbe gilt auch für Maler und Bildhauer von außergewöhnlicher Schöpfungs-kraft.
Der schlichte Geist des alten Daniel hingegen war auf jenes bösartige Wesen eingestellt gewesen wie ein Radio auf einen Sender. Im Rahmen von dessen makabrem Plan hatte er lediglich ein weiteres Kettenglied dargestellt.
In der Krypta unter dem Vendange Building versuchte Cloister erneut, Verbindung mit jenem Wesen aufzunehmen, doch es antwortete ihm nicht mehr. Nun blieb ihm nur ein etwas abwegiger, wenn nicht gar aussichtsloser Versuch, eine Idee, auf die er gerade erst gekommen war: Er wollte die Tonaufnahme des Exorzismusrituals, und zwar die Stelle, an der Daniel Dr. Barrett etwas ins Ohr geflüstert hatte, durch einen Filter laufen lassen, der die akustische Qualität verbessern sollte. So hoffte er, mehr zu verstehen. Daniels Lippen waren auf dem Bild nicht zu sehen, sonst hätte Cloister die Aufnahme einfach jemandem, der von den Lippen ablesen konnte, zeigen können. Unglücklicherweise verdeckte die Psychiaterin jedoch Daniels Lippen, als sie sich vorbeugte, um den alten Mann zu verstehen.
Jedenfalls isolierte Cloister den Ton dieser Stelle und spei-cherte ihn auf dem Laptop. Dann öffnete er die Audiodatei mit einem Programm zur Audiobearbeitung und stellte auf volle Lautstärke. Geduldig probierte er die verschiedenen Fil-ter durch. Er setzte Kopfhörer auf, um besser hören zu kön-nen. Aber von Daniels Stimme war nichts zu hören. Nicht einmal ein Flüstern.
Da hatte er eine Eingebung. Er erinnerte sich an einen al-ten Freund, den er während seines Studiums an der Universität Chicago kennengelernt hatte: den exzentrischen Harrington Durand. Manchmal übersieht man das Naheliegende. Warum hatte er nicht schon früher an ihn gedacht? Zum Glück lebte er ganz in der Nähe, im eleganten Viertel Brookline. Er hatte ihm bereits bei anderen Gelegenheiten geholfen. Cloister sah auf die Uhr. Zwei Uhr nachmittags. Jeder normale Mensch wäre jetzt wach, doch Harrington Durand war kein normaler Mensch. Wie auch immer, diese Sache war viel zu wichtig, um lange zu zögern. Cloister wählte die Nummer des Brookliner Anschlusses und wartete.
»Ja, bitte?«
Erstaunlicherweise war Harrington sofort ans Telefon gegangen. Und er klang vergnügt.
»Harrington, hier ist Albert Cloister …«
»Mach dir keine Umstände! Ich bin nicht zu Hause. Ruf ein andermal an.«
Der Schuft hatte eine Scherzansage auf dem Anrufbeantworter aufgenommen, um seine Anrufer zu täuschen. Geschickt hatte er zwischen dem »Ja, bitte?« und der kalten Du-sche am Ende eine Pause gelassen. Doch so leicht gab Cloister sich nicht geschlagen. Er drückte auf die Wahlwiederholungs-taste und wartete,
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