616 - Die Hoelle ist ueberall
bis die Ansage erneut begann. Das tat er sechs-oder siebenmal, doch vergeblich. Entweder war Harrington wirklich nicht zu Hause, oder er hatte sich Watte in die Ohren gestopft.
Harrington trug sein Handy normalerweise nicht bei sich, doch in Ermangelung einer Alternative suchte Cloister die Nummer aus seinem Adressbuch heraus und rief sie an. Er ließ es lange klingeln, mindestens zehnmal. Als er schon dach-te, auch hier werde sich ein Anrufbeantworter einschalten oder das Gespräch werde abgewiesen, vernahm er sehr leise Harringtons Stimme.
»Ja, bitte?«
»Hallo Harrington, hier ist Albert Cloister. Ich brauche deine Hilfe.«
»Tut mir leid, aber ich kann jetzt nicht sprechen …«
»Es ist sehr wichtig, Harrington. Ich muss dich um einen sehr dringenden Gefallen bitten.«
»Jetzt geht es nicht. Ich bin in einer … ähm … denkwür-digen Besprechung. Mehr kann ich dir nicht sagen. Ich bin von farbigen Herren umgeben, alle sehr reserviert.«
»Farbige Herren?«
»Ja: blau, grün und schwarz. Militärs und Regierungsmit-glieder.«
»Dann ruf mich bitte zurück, sobald du kannst.«
Harrington beendete das Gespräch. Nun hieß es warten und in anderen Richtungen weiterforschen. Eigentlich glaubte Cloister ohnehin nicht, dass ihm sein unkonventioneller, genialer Freund diesmal würde helfen können. Da Dr. Barrett im Koma lag, konnte er in dieser Richtung erst einmal nicht weiterarbeiten. Doch ihm standen zwei andere Wege offen. Zum einen wollte er mit dem Exorzisten, Pater Gómez, sprechen. Bei seiner Ankunft in Boston war ihm dies nicht vor-dringlich erschienen. Nun war es an der Zeit, es nachzuholen. Den Berichten des Bistums zufolge hatte das Exorzismusritual ihn stark mitgenommen; er sei sehr niedergeschlagen. Er war ein ziemlich dünkelhafter junger Mann, der die Mächte, mit denen er sich angelegt hatte, unterschätzt hatte.
Außerdem musste Cloister sich trotz des ausdrücklichen Verbots von Mutter Victoria einmal mit Daniel unterhalten. Dr. Barrett barg in ihrer Person den Schlüssel zu allem, doch dieser Schlüssel stammte aus dem Mund des Gärtners. Auch wenn er selbst sich dessen nicht bewusst war.
36
Boston
Der kleine Raum im Sitz der Erzdiözese Boston war relativ schmucklos, aber geschmackvoll eingerichtet. An einer Wand standen Regale voller Bücher, in der Mitte ein länglicher Tisch, und an der gegenüberliegenden Wand befand sich ein großes Fenster. Hier wartete Pater Cloister auf den Priester, der auf Wunsch der Vinzentinerinnen des Altenheims und mit Einwilligung von Dr. Audrey Barrett den Exorzismus an Da-niel vorgenommen hatte.
Cloister dachte an den Schriftsteller Anthony Maxwell, was ihn zwangsläufig auch an die schwerwiegenden Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen erinnerte, die gegen diese Erzdiözese erhoben worden waren. Tatsächlich waren erst vier Jahre vergangen, seit Kardinal Bernard Law sich aufgrund der Skandale gezwungen gesehen hatte, zurück-zutreten. Dieser Makel blieb an der katholischen Kirche der Vereinigten Staaten haften. Kirchen bestehen aus Menschen, und Menschen sind unvollkommen. Cloister war keineswegs und unter keinen Umständen dafür, den Mantel des Schweigens über einen Fehler oder ein Vergehen zu decken. Im Gegenteil. Die Männer und Frauen Gottes – jedweden Glaubens – mussten den übrigen Menschen stets ein Vorbild sein, auch in der Buße für ihre eigenen Sünden.
»Guten Tag«, sagte der hochgewachsene schlanke Priester, der unversehens ins Zimmer trat. »Ich bin Tomás Gómez.«
Cloister erkannte ihn sofort vom Video wieder. Dieser Typ Mensch war ihm nicht fremd: ritualversessen und selbstgefällig. Im Bericht hieß es über ihn, er sei trotz seiner Jugend ein Exorzismusexperte, der das Ritual schon Dutzende Male in Südamerika – er stammte aus Puerto Rico – durchgeführt hatte. Doch seine Reaktion auf Daniels Verwandlung und sein psychischer Zustand seit dem Ritual ließen vermuten, dass er es wohl noch nie zuvor mit einem Fall von echter Besessenheit zu tun gehabt hatte.
»Guten Tag«, erwiderte Cloister die Begrüßung und erhob sich dabei. »Ich muss Ihnen einige Fragen stellen.«
»Selbstverständlich. Ich stehe Ihnen zur Verfügung.«
Der junge Priester nahm Cloister gegenüber Platz und brachte so instinktiv den Tisch zwischen sich und den anderen. Er wirkte nervös und bedrückt.
»Danke. Es wird nicht lange dauern. Die Frage, die ich Ih-nen stellen muss, ist sehr einfach. Ich muss Sie bitten,
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