616 - Die Hoelle ist ueberall
die Bibliothek oder in Buchhandlungen, in die Videothek oder ins Museum. Durand war Epileptiker und litt außerdem an einer psychischen Krankheit namens »Sozialphobie«, die ihm das Leben zur Höl-le machte, wann immer ihm eine Veranstaltung oder eine Besprechung bevorstand, an der ihm unbekannte Personen teilnahmen oder solche, mit denen er sich nicht völlig wohl-fühlte. Diese Einschränkung konnte er nur überwinden, wenn das zu erwartende Vergnügen größer als seine Qualen war – so, wenn er eine käufliche Studentin namens Rachel besuchte, von der er emotional abhängig war.
Zu diesen psychischen Problemen gesellten sich ein fun-damentaler Unglaube – sein Atheismus – und seine in höchs-tem Maße negative Einstellung zum Leben. Cloister nannte ihn daher einen »Mönch des Nihilismusordens«. So war Harrington Durand tatsächlich: ein Nihilist, der an nichts glaubte und nichts einen Wert beimaß, was jenseits des Materiellen oder der Zeit lag, die jedem von uns zugemessen ist. Wenn zwei Männer mit solch unterschiedlichen Lebensentwürfen eine Freundschaft unterhielten, dann genau deshalb, weil sie die entgegengesetzten Pole eines Spektrums repräsentierten. Doch sie respektierten einander in intellektueller Hinsicht und suchten beide auf ihre Art nach der Wahrheit.
Cloister hatte eine Stunde gewartet, dann ein Taxi genommen und dem Fahrer Harringtons Anschrift in Brookline, eine halbe Stunde vom Bostoner Stadtzentrum entfernt, genannt. Der Jesuit saß auf der Rückbank des Taxis und grübel-te über Leben und Tod, über die Schöpfung und die Güte Gottes. Nichts und niemand war stärker als der Schutz Gottes. Die Kräfte des Bösen waren null und nichtig im Angesichts des höchsten Guten.
Cloister klingelte beharrlich, bis Harrington ihm höchst persönlich die Tür öffnete. Er wirkte ausgesprochen munter, trug einen Morgenmantel aus Atlas über seiner Kleidung und hielt ein Buch in der Hand. Für ihn gab es keinen Jetlag. Sein Tagesrhythmus mit den durchwachten Nächten hatte sich dem Mondverlauf angepasst, so dass er alle achtundzwanzig Tage einen kompletten Tag weniger schlief als andere Sterbliche, die sich nach der Sonne richteten. Wenn man ihn treffen wollte, musste man sich nach seinem exzentrischen Zeitplan richten. Manchmal musste man ihn um fünf Uhr morgens aufsuchen, wenn er gerade aufstand; manchmal um elf Uhr abends.
»Komm herein«, sagte Harrington. »Du hast Glück. Diese rücksichtslosen Scheißkerle haben mich völlig aus dem Rhythmus gebracht …«
»Du meinst die Leute von der Regierung?«
»Wen denn sonst? Habe ich dir nicht gesagt, das sind Scheißkerle? Aber ich will mich nicht weiter beklagen. Hast du Ecce homo von Nietzsche gelesen?«
Harrington zeigte Albert das Titelbild des Buches, während sie ins Wohnzimmer gingen.
»Nein, habe ich nicht.«
»Dann empfehle ich es dir. Es hilft mir zu vergessen, dass diese … Es ist einfach geil. Die ersten Kapitel heißen ›Warum ich so weise bin‹ und ›Warum ich so gute Bücher schreibe‹. Nietzsche ist ein verdammtes Genie. Fast von der ganzen Welt missverstanden, natürlich.«
»Natürlich«, pflichtete Albert seinem Freund mit dem losen Mundwerk bei, in so scherzhaftem Ton, wie es ihm in seiner derzeitigen Stimmung möglich war.
Trotz seiner Gebete und des Versuchs, sich zu beruhigen, hatte sich weder seine Stimmung gebessert, noch hatte er neue Kraft schöpfen können. Die Aussichten waren wenig erfreulich. So sehr er es sich auch wünschte, er fühlte sich nicht mehr erleuchtet. Er war auf der Seite des Guten, doch das half ihm im Augenblick wenig.
»Ich bestehe darauf, dass du Nietzsche liest. Bildung ist wichtig, unter anderem, damit man dich nicht mit so etwas wie moderner Kunst hinters Licht führt.«
Albert lachte nicht über diesen Witz, wie er das sonst getan hätte.
»Warum sagst du das?«
»Weil es die Wahrheit ist, weil es die verdammte Wahrheit ist … Wenn die Leute nur wüssten, wie der Kunsthandel funktioniert … Ach, wie schön ist es in der Höhe, wo kein Gesindel hinkommt! Wie erfrischend ist das Wasser eines Brunnens ohne Gesindel!«
»Du wirst von Tag zu Tag schlimmer, Harrington.«
»Ich weiß. Das hat mein Therapeut mir auch schon gesagt. Ach, der Überdruss … Vielleicht begehe ich ja Selbstmord.«
»Das meinst du nicht ernst!«
»Nun, das kann sein, ich werde darüber nachdenken. Aber zuvor würde ich meine Putzfrau umbringen. Ich bin es leid. Sie bringt meine Ordnung durcheinander.
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