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616 - Die Hoelle ist ueberall

Titel: 616 - Die Hoelle ist ueberall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Zurdo
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schlicht gestrickte Menschen will, sondern solche, die offen sind, rein, aufrichtig.«
    Der alte Kardinal schweifte ab. Seine gekräuselten Lippen waren Pater Cloister wohlvertraut. Er war besorgt und unfä-hig, es zu verbergen.
    »Was muss ich denn so dringend wissen?«, fragte Cloister und nahm damit das Gespräch wieder auf.
    »Wie bitte?«
    »Warum war meine Rückkehr aus Brasilien so eilig?«
    »Ach, richtig …«, sagte Franzik. »Zuvor möchte ich, dass du einen guten alten Freund von mir besuchst. Von ihm habe ich mein Verständnis von Theologie und vieles andere gelernt. Ich habe ihn gebeten, dich in seiner Abgeschiedenheit im Benediktinerkloster in Padua zu empfangen. Als ich er-wachsen wurde, war er bereits alt. Er ist über hundert Jahre alt. Aber das soll dich nicht negativ beeinflussen. Sein Verstand ist klarer als der der meisten Menschen. Er ist der weiseste Mensch, den ich kenne. Such ihn auf. Erzähl ihm, was du entdeckt hast, und alles, was dich bedrückt. Unglücklicherweise bleibt ihm nicht mehr viel Zeit. Eine seltsame Lebererkrankung frisst ihn allmählich auf.«
    »Was hat er mit meinen Nachforschungen zu tun?«
    »Viel. Mehr, als du dir vorstellen kannst.«
    »Dann hoffe ich, dass er mich erleuchten kann.«
    »Das wird er. Zweifle nicht daran, lieber Albert.«

8
    Boston
    Die Vergangenheit des ältesten öffentlichen Parks der Vereinigten Staaten, des Boston Common, war nicht sehr rühm-lich. Das Gelände hatte als Lager für diverse Heere gedient, an seinen Bäumen hatte man mehr als einen zum Tode Verurteilten gelyncht, und der Rasen hatte bis weit ins neunzehnte Jahrhundert zahllosen Kühen als Weide gedient. Heute jedoch gehörten die Viertel um den Boston Common wie Beacon Hill im Norden, wo sich das Haus von Dr. Audrey Barrett befand, zu den teuersten der Stadt. In ihrer ruhigen, nur zwei Häuserblocks vom Park entfernten Straße standen dunkle Backsteingebäude, schmiedeeiserne Zäune, welche die Grundstücke begrenzten, Straßenlaternen wie aus einem Sherlock-Holmes-Roman und kleine Steintreppen vor den Häusern. Dort konnte man sich mühelos vorstellen, man sei in einem typischen Londoner Stadtviertel. Amerika mochte die Truppen Seiner Majestät geschlagen haben, doch Boston würde in gewisser Weise immer eine englische Stadt bleiben.
    Es war still in der Straße. Nur wenige Geräusche wagten diese Stille zu unterbrechen: das Rascheln der trockenen Blät-ter, wenn der Wind hindurchfuhr, das kaum wahrnehmbare Summen der Glühbirne einer Straßenlaterne, eine Katze, die in den Mülltonnen wühlte. Auf dem Boden neben einer Mülltonne lag ein Kürbis vom letzten Halloween, den noch niemand entfernt hatte. Das grob geschnitzte Gesicht hatte in der Gruselnacht niemanden erschrecken können, doch jetzt wirkte es unheimlich. Augen und Mund – einst von einer Kerze erleuchtet – hatten sich in bodenlose Brunnen verwandelt.
    Audrey eilte die Treppe zu ihrer Wohnungstür hinauf. Beim Eintreten stolperte sie über die auf dem Boden verstreute Post. Ein vergoldeter Briefschlitz verwandelte die Diele in einen riesigen Briefkasten, in dem jeden Tag eine Unmenge Post landete. Verdrossen schob sie die Briefe zusammen und legte sie auf die Anrichte. Eine rasche Durchsicht ergab, dass nichts allzu Dringendes dabei war. »Gott sei Dank für die kleinen Gefälligkeiten«, dachte sie. Laut fügte sie hinzu: »Die großen hebst du dir für deinen Sohn auf, was?«
    Niemand antwortete. Sie war allein. Völlig allein. In den letzten fünf Jahren – seit ihr Sohn verschwunden war – war sie nicht eine Sekunde nicht allein gewesen.
    Die Füße taten ihr weh, sie waren geschwollen. Sie zog die Schuhe aus und ging auf Strümpfen ins Wohnzimmer. Im Dunkeln ließ Audrey sich in einen großen Ledersessel fallen. Ihre Haushaltshilfe war wieder gegangen, ohne den Kamin anzuzünden. Das war zu erwarten gewesen, da sie schon nicht die Post vom Boden aufgehoben hatte. Die Frau hasste sie aus irgendeinem Grund, und mit solchen kleinen Gemeinheiten rächte sie sich. Audrey hatte es satt. Wenn sie nicht so müde wäre, würde sie sie jetzt gleich anrufen und ihr kündigen. Es gab keine anständigen Menschen mehr auf der Welt. Die einzige Ausnahme war die Oberin … und vielleicht dieser tö-richte Feuerwehrmann Joseph Nolan – voller guter Absichten wie ein naiver Pfadfinder.
    Ihr blieb nichts anderes übrig, als aus dem Sessel aufzustehen und den Kamin selbst anzuzünden. Kurz darauf knisterte das Holz im Feuer.

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