616 - Die Hoelle ist ueberall
Audrey hatte keinen Hunger, so dass sie, statt zu Abend zu essen, beschloss, ein wenig Musik aufzule-gen. Hauptsache, sie musste nicht weiter über den Vorfall mit dem alten Gärtner Daniel nachgrübeln. Seine Bemerkungen hatten sie aus heiterem Himmel getroffen. Entgegen dem, was sie Joseph erzählt hatte, erschien es ihr sehr wohl merkwürdig, dass Daniel die Geschichte der Statue der drei Lügen kannte. Dass er außerdem von einer vierten Lüge gesprochen hatte, widersprach jeder Logik. Erschreckend. Denn Audrey barg seit vierzehn Jahren ein Geheimnis an der dunkelsten Stelle ihres Herzens. Daniel hatte ihr sogar noch komplizenhaft zugezwinkert … Es war schwer, hier an Zufall zu glauben. Gleich morgen würde sie wieder mit dem Alten sprechen, und sie hoffte, dabei etwas in Erfahrung zu bringen. Nun wollte sie jedoch versuchen, an nichts mehr zu denken und nur ein wenig Musik zu hören. Sie sah die CDs durch, die in einem Ständer auf der Hi-Fi-Anlage standen. Bei einer dachte sie: »Warum nicht?«
Kurz darauf erklang Bruce Springsteen in ihrem Wohnzimmer. Mit seiner rauhen Stimme sang er für eine Frau, die nie die seine sein würde. Es war das Lied, das Audrey den Feuerwehrmann hatte trällern hören, als dieser Daniels tote Rose gewässert hatte.
She’ll let you in her house
If you come knockin’ late at night
She’ll let you in her mouth
If the words you say are right
If you pay the price
She’ll let you deep inside
But there’s a secret garden she hides.
Dieses Lied machte sie immer traurig. Warum hatte sie gedacht, diesmal würde das anders sein? Sie stellte die Stereoanlage ab, ohne das Ende des Liedes abzuwarten, und die plötzliche Stille ließ sie zusammenzucken. Das Bild des vergessenen Kürbisses neben der Mülltonne schoss ihr durch den Kopf und hätte beinahe eine Erinnerung in ihr ausgelöst, die sie hastig unterdrückte.
Keine Musik also. Was sie jetzt wirklich brauchte, war ein Drink. Ein Jack Daniels würde den Knoten in ihrem Magen auflösen. Vermutlich hatte auch ihr Freund Leo, den ein Herzinfarkt tötete, ehe die Zirrhose es tun konnte, so angefangen. Bestimmt hatte er anfangs nur hin und wieder ein Glas getrunken, abends, um lästigen Erinnerungen zu entfliehen. Er war immer der Schwächste der drei gewesen. Und der Naivste. Audrey konnte sich nicht erinnern, dass er auch nur einmal nicht den Fuß von John Harvard berührt hatte, wenn er an der Statue vorbeigekommen war – bis zu jener Nacht. Er hatte gesagt, das bringe Glück. Der gute Leo. Auch an jenem Apriltag des Jahres 1991 hatte er es getan …
»Los, Audrey, berühr seinen Fuß«, sagte Leo. »Und du auch, Zach. Heute Nacht können wir John Harvards Glück wirklich gebrau-chen.«
»Sei still, du Idiot!«
Zach presste die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und sah sich dabei um, um sich zu vergewissern, dass niemand Leo gehört hatte. Sie waren allein, aber dennoch entspannte Zach sich nicht. An Audrey, damals seine feste Freundin, gewandt, sagte er: »Und du verteidige ihn nicht wieder. Er ist ein Großmaul …«
Sie verteidigte Leo immer. Das stimmte. Sie konnte nichts dagegen tun. Audrey und Leo kannten sich schon seit ihrer Jugend, weil ihre Mutter und seine Eltern Nachbarn gewesen waren. Sie waren auf dieselben Schulen gegangen und hatten denselben Bus von Hartford, Connecticut, nach Boston genommen. In dieser ganzen Zeit war nie etwas zwischen ihnen gewesen, aber ausgerechnet Leo hatte sie Zach vorgestellt, mit dem Audrey nun seit beinahe eineinhalb Jahren ging. Die beiden studierten auf dem Harvard-Campus Politikwissenschaften, und Audrey auf dem Longwood-Campus Medizin.
»Du hast ihn ja gehört, Leo, du bist ein Großmaul.«
In ihren Worten lag kein Vorwurf. Leo, der immer noch den lin-ken Fuß der Statue von John Harvard berührte, zuckte mit den Achseln und lächelte weiter.
»Ihr habt keine Ahnung, was wir riskieren«, sagte Zach verärgert. »Ihr zwei seid die reinsten Kinder.«
»Ich möchte dich daran erinnern, dass ich drei Monate älter bin als du«, sagte Leo.
»Und ich vier«, fügte Audrey hinzu.
»Ihr könnt mich mal!«
Sie sahen Zach hinterher, der auf die politikwissenschaftliche Fa-kultät, die John F. Kennedy School of Government, zuging. Er war jähzornig. Das hatte Audrey zu Beginn ihrer Beziehung nicht gemerkt. Am Anfang einer Beziehung sieht man immer nur Rosen, bis die Dornen auftauchen. Zachs Dornen waren einige Monate zuvor aufgetaucht, vielleicht
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