616 - Die Hoelle ist ueberall
war in einigen Fällen mehr als überraschend. Eine alte Frau mit unergründlichem Blick beschrieb unter dem Einfluss des Tranks Dinge, die sie nie gesehen hatte. Sie nannte Einzelheiten aus Albert Cloisters Leben, von denen praktisch niemand etwas wusste und die ihr nicht bekannt sein konnten.
Doch am meisten beunruhigte den Mann des Glaubens und der Wissenschaft ein Satz, der nicht völlig unerwartet kam, aber darum nicht weniger verstörend war. Jene Frau sprach den Satz in einer ausgestorbenen Indiosprache, die Cloisters brasilianischer Dolmetscher aus alten Texten spanischer Geistlicher kannte, die jene Gegenden christianisiert hatten.
Der Blick der alten Frau mit der kupferfarbenen Haut, ihre Miene, die Art, wie sie ihn ansah, der Schauder, der ihren welken Körper überlief, all dies deutete daraufhin, dass sie ausgesprochen hatte, womit er gerechnet hatte.
Noch bevor der Dolmetscher den Satz übersetzt hatte, spürte Cloister, wie ein Pfeil sein Herz traf. Zugleich empfand er ein sonderbares Triumphgefühl. Die Worte versengten ihn wie geschmolzenes Metall: »DIE HÖLLE IST ÜBERALL.«
Deshalb war er nun hier. Im Vatikan waren Berichte eines Missionars eingetroffen, die eine Verbindung zu seinen Nachforschungen aufwiesen. Die Indios jener abgelegenen Urwald-region beschrieben detailliert grauenvolle Visionen eines mutmaßlichen Jenseits. Sie nahmen ein Rauschgift, um ein Fenster in eine andere Welt zu öffnen. Es waren schlichte, aber tapfere Menschen. Ihr Glaube verhieß ihnen kein Paradies am Ende des Lebens, sondern ein endgültiges Ende. Für sie war dies ihr einziges Leben. Sie wären niemals darauf gekommen, dass sie selbst einst die trostlose, unheilvolle Welt ihrer Visionen bewohnen könnten. Für sie war es eine ande-re, andersartige Welt in einer fremden, isolierten Dimension.
Nachdem er die Wirkung des Tranks an den Stammesmit-gliedern beobachtet und die Worte der Alten gehört hatte, die zugleich seine Sehnsucht und seine Angst verkörperten, blieb Cloister nur eins zu tun. Er musste selbst den Trank probieren, der die Indios in den Zustand versetzte, in dem ihr Geist in gewissem Maße die Barrieren von Raum und Zeit einriss. Zunächst widerstrebte sein Wunsch den Indios, doch die alte Frau überzeugte sie, ihn von dem Trank probieren zu lassen. Mit ihrem sechsten Sinn hatte sie gemerkt, dass er die Erfahrung selbst machen musste. In einem hölzernen Gefäß gab sie ihm eine Dosis des Tranks. Albert leerte ihn, als hinge sein Leben davon ab. Sogleich setzte die Wirkung des vergorenen Getränks ein. Eine merkwürdige Abstumpfung überkam ihn. Sein Blick trübte sich. Ein sehr unangenehmes Kribbeln überlief seinen Körper, von den Gliedmaßen nach innen. Geräu-sche hörte er lauter und zudem deutlicher, wenn auch zugleich fremdartig und anders. Seine Nase nahm feinste Ge-rüche wahr – verbranntes Holz, Pflanzen, Erde, Schweiß, Tiere, Essen, das Getränk selbst. Sein Geist begab sich auf die Reise. Er drang in eine neue Welt vor, in die des erweiterten Bewusstseins. Über diesen Zustand hatte er viel gelesen. Er kannte ihn gut, und doch hatte er ihn noch nie zuvor erfahren.
Seine erste Wahrnehmung war wie das Blitzlicht eines Fo-tografen, gefolgt von einem dumpfen Knall in seinem Kopf. Das Lagerfeuer, um das sich alle versammelt hatten, schien zu erstarren. Er sah jede einzelne Flamme langsam aufzüngeln und ersterben. Eine Flut von Empfindungen überschwemmte ihn. Sein Herz war erfüllt von Sehnsucht, Tränen traten ihm in die Augen und liefen ihm über die Wangen. Er hatte das Gefühl, wach zu sein, sehr bewusst und lebendig. Wie ein Radio, das mehrere Frequenzen zugleich empfängt, war sein Hirn bald mit Daten gesättigt, die sich ganz von allein am richtigen Ort festsetzten. Er verstand. Er nahm wahr. Eine Klarheit, die so hell strahlte wie ein Diamant, materialisierte sich tief in ihm.
»Ich sehe es …!«, schrie er erstickt.
Ehe Cloister das Bewusstsein verlor, hatte er begriffen, was er nie auch nur geahnt hatte; nicht so sehr der Bedeutung wegen, sondern aufgrund der Art seines Verstehens. Einer für ihn neuen Art. Ein Licht erleuchtete seinen Geist. Es öffnete ein Fenster zur Vision. Allerdings erhellt nicht jede Vision ein Geheimnis oder eine Wahrheit. Manchmal wird enthüllt, was man gar nicht sehen möchte, was man lieber ignorieren wür-de. Blind zu sein ist oftmals besser, als zu sehen.
Nur der, dem der Wissensdrang über alles geht, kann sich ernsthaft in den
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