616 - Die Hoelle ist ueberall
Schmelztiegel der Wahrheitssuche stürzen. Die alte Indiofrau hatte diese Begierde bei Albert Cloister bemerkt. Jedes Wissen, und sei es auch noch so schmerzlich, ist für eine Seele wie die seine weniger schmerzlich als Nichtwissen.
In Cloisters Vision leuchteten die Flammen des Lagerfeuers so hell auf wie der Strahl eines Flakscheinwerfers. Sie züngel-ten zum Himmel empor. Mit einem Mal tauchte aus dem Strahl ein Wesen auf. Es wirbelte zu ihm herum und fixierte ihn wie eine Schlange ihre Beute. Sein Blick war gelassen, aber schrecklich anzusehen, sein Gesicht von kalter Schönheit, der die sengenden Flammen nichts anhaben konnten. Dieser hypnotische Blick … Diese bösartige Präsenz.
Bösartig.
Pater Cloister war wie versteinert und merkte, wie ein kal-ter Schauder ihm über den Rücken lief. Unwillkürlich stieß er einen angstvollen Laut aus. Plötzlich überkam ihn ein Schwindel, und obwohl er am Boden saß, verlor er das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken. Die Geräusche des Urwalds wurden in seiner Wahrnehmung schwächer, wie eine ferne Brandung. Die Schreie und die Gerüche verwisch-ten sich. Sein Einssein mit der Welt hielt inne.
Es war bereits Tag, als er das Bewusstsein wiedererlangte. Er fühlte sich schwach und befand sich immer noch unter dem Eindruck seiner Vision, die ihn beim Erwachen aus der Erinnerung ansprang wie ein tollwütiger Hund. Jene verderb-ten Augen hatten ihn angesehen. Ihn.
Als er erwachte, hatte er einen trockenen Mund und starken Durst. Er war verwirrt. Als er über die Geschehnisse der Nacht nachdenken wollte, erfasste ihn ein intensives Gefühl, so, als hätte er die Begrenzungen seiner Sinne durchbrochen, in gewisser Weise einem Déjà-vu vergleichbar. Seinen Körper nahm er als überwältigend wirklich wahr. Dies war, was ihm im Urwald geschehen war.
Als er seine Erfahrung mit dem Feuerwesen Kardinal Franzik erzählt hatte, hatte dieser ihm befohlen, so rasch wie mög-lich nach Rom zurückzukehren. Es gebe etwas, das er wissen müsse, und das dulde keinen Aufschub.
»Der Böse führt den Menschen in Versuchung, lieber Al-bert, und er quält ihn mit der Verzweiflung«, sagte der Präfekt der Wölfe Gottes nun. Er saß in einem mit rotem Samt ge-polsterten Mahagonisessel in seinem Büro.
»Ich bin verwirrt. Aber in gewisser Weise …«
»Du findest, es passt zusammen.«
»So ist es, Monsignore. Ich weiß nicht, wie oder warum.«
»Die Attacken des Bösen nehmen von Tag zu Tag zu. Die Welt wird immer mehr zur Hölle.«
»Ja, die Hölle ist überall, aber … dieser Blick …«
»Das Seelenheil gründet genau darauf, diese Hölle zu be-siegen, ihre Versuchungen zu meistern. ›Die Hölle ist überall‹, dieser Satz entspricht einem Plan des Bösen. Da bin ich sicher. Er will Krieg, und wir sind seine starken, zähen Widersacher. Ich habe hier ein Schriftstück, dass du lesen musst. Es trägt die Unterschrift von Pater Gabriele Amorth.«
»Dem Exorzisten der Diözese Rom.«
»Genau. Hier«, sagte der Kardinal und reichte Albert einige zusammengeheftete Blätter. »Ich bin sicher, dass es dich interessiert.«
Es war die Kopie eines Interviews mit dem berühmten Exorzisten und Dämonologen, das er der amtlichen Zeitung des Heiligen Stuhls, dem Osservatore Romano, gewährt hatte. Darin sprach Amorth über die weltweite Zunahme satanischer Praktiken, von Okkultismus, Spiritismus und schwarzer Magie.
»Ich kenne Pater Amorths Art zu denken, Euer Eminenz. Und wie Sie wissen, teile ich seine Meinung oft nicht. Als Wissenschaftler kann ich nicht akzeptieren, dass der Teufel sich ungehindert unter Jugendlichen tummelt, die ein Spiel spielen, das sie nicht verstehen.«
»Als Wissenschaftler kannst du das nicht akzeptieren. Und als Priester?«
Franziks Frage lastete schwer auf ihm.
»Darauf weiß ich keine Antwort.«
»Verstehe«, sagte der Alte, presste die Lippen zusammen und neigte ein wenig den Kopf. »Dein Glaube ist nicht klein, aber er reicht dir nicht. Du musst ihn mit etwas konfrontie-ren, an dem er sich beweisen kann. So funktioniert dein Verstand, der deinen Geist beeinflusst. Ich war genau wie du, aber jetzt … Ich habe zu viel gesehen, was nur der Glaube erklären oder begründen kann. Es gefällt mir, dass es immer noch Menschen gibt, die jung an Jahren und jung im Herzen sind. Stell ungehindert deine Nachforschungen an. Rotte das Vorurteil aus. Christus wollte, dass wir werden wie die Kin-der, damit wir uns ihm annähern. Aber das heißt nicht, dass er
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