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616 - Die Hoelle ist ueberall

Titel: 616 - Die Hoelle ist ueberall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Zurdo
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»Ich meine, …«
    »Macht nichts. Ich weiß, was Sie meinen.«
    »Sie sind sehr hübsch«, sagte das kleine Mädchen unvermittelt.
    Audrey lächelte, anfangs traurig, doch dann fiel ihr auf, dass der kleine Howard sie beobachtete. Er errötete, als er sah, dass sie es bemerkt hatte. Joseph legte die Hand aufs Herz und sagte: »Ich schwöre Ihnen, das haben wir nicht geübt.«
    Sie gab sich geschlagen, auch wenn sie nicht sicher war, ob Joseph die Wahrheit sagte.
    »Vielleicht hab ich doch noch ein bisschen Zeit für einen Spaziergang.«
    »Super!«, rief Joseph. »Gib mir die Hand, Tiffany. Ho-ward?«
    Das Mädchen gehorchte ihrem Vater sofort, Howard je-doch nicht. Er stellte sich neben Audrey und griff nach ihrer Hand. Sehr behutsam nahm sie seine Hand. Sie war so zerbrechlich.
    »Sieht so aus, als hättest du sie in der Tasche, was, Kum-pel?«, sagte Joseph zu seinem Sohn. »Guck mal, wie sie dich ansieht, präg dir den Blick ein, Champion. Den wirst du in deinem Leben nicht oft zu sehen bekommen. Ich würde sa-gen, es ist Liebe.«
    Der Feuerwehrmann fand, dass sein kleiner Howard ein ausgesprochener Glückspilz war. Unter der undurchdringli-chen Höflichkeit steckte eine außergewöhnliche Frau. Und Joseph hatte sich vorgenommen, sie zutage zu fördern.
     
    Audreys Spaziergang mit Joseph und den Kindern war letztlich ausgesprochen angenehm. All ihren Sorgen und ihrer unaufhörlichen Traurigkeit zum Trotz, gelang es dem Feuerwehrmann, sie zum Lächeln zu bringen. Er war ein sehr un-terhaltsamer Mann. Und offenbar auch ein sehr liebevoller und pflichtbewusster Vater. Für Audrey verging der restliche Nachmittag wie im Fluge. Um ihn ein wenig zu verlängern, bot sie Joseph an, ihn nach Hause zu bringen. Die Kinder sollten bei ihm übernachten. Sie verabschiedeten sich an der Haustür, und allen war anzusehen, dass der Moment des Abschieds zu früh gekommen war. Audrey hatte an diesem Nachmittag ganz vergessen zu zählen, wie viele Stunden es noch dauerte, bis sie ins Bett gehen konnte. Das tat sie normalerweise, weil sie jeden Abend hoffte, von dem Menschen zu träumen, den sie am meisten auf der Welt geliebt hatte.
    An ihn dachte sie auch jetzt, zwei Tage nach ihrem Spaziergang über den Campus von Harvard, während Pater Can-non seine Sonntagspredigt hielt. Audrey ging jeden Sonntag in derselben Kirche zur Messe, in die St. Vincent de Paul Church, eine Hochburg irischstämmiger Amerikaner wie sie selbst. Audreys Eltern waren inbrünstig, beinahe fanatisch gläubige Katholiken gewesen, die sich stets bemüht hatten, ihr Gottesfurcht einzuflößen. Und sie hatten ihre Sache gut gemacht. Schon als kleines Mädchen hatte sie große Furcht vor ihm empfunden. Ihre Furcht vor Gott war ebenso groß wie der Hass, den sie mittlerweile gegen ihn hegte.
    Die Gemeinde war sehr stolz auf ihr »irisches Blut«, und zu diesem Stolz hatte es stets eine Entsprechung gegeben. Ur-sprünglich hatte die Kirche anderswo gestanden, doch als sie infolge der Ausdehnung der Stadt Boston im neunzehnten Jahrhundert vom Abriss bedroht gewesen war, hatten die Gläubigen beschlossen, sie an ihren derzeitigen Standort zu verlegen. Derselbe Glaube, der Berge versetzen kann, konnte auch die St. Vincent de Paul Church Stein für Stein versetzen. Audreys Glaube indes reichte nicht aus, um inneren Frieden zu finden. Doch zumindest führte er sie immer wieder ins Altenheim der Vinzentinerinnen und zu Mutter Victoria.
    Sogar an einem heiligen Ort wie der St. Vincent de Paul Church stritten in Audreys Seele unablässig ihre religiösen Überzeugungen und ihr Groll gegen Gott. Als Erstere einmal die Oberhand zu gewinnen schienen, versuchte sie, sich auf die Worte des Priesters zu konzentrieren. Doch vergeblich. Da konzentrierte sie sich auf die Fresken an den Wänden, die sie bereits so oft betrachtet hatte. Sie stellten die vierzehn Stationen der Passion Christi dar, von der Verurteilung zum To-de über die unbeschreiblichen Qualen, die er leiden musste, bis ins Grab. Doch auch in diesen Gemälden fand sie keinen Trost. Sie wäre am liebsten gegangen, doch sie blieb, wo sie war. Wenn dieses kleine Opfer bewirkte, dass Gott sich schuldig fühlte, dann war es das wert, sagte sie sich. Sie wand-te ihre Aufmerksamkeit wieder Pater Cannon zu. Es war der erste Sonntag nach Allerheiligen, und in seiner Predigt sprach er vom Leben nach dem Tod.
    Nach der Messe wirkten die Gläubigen alle heiter und lä-chelten; vielleicht waren sie froh, dass sie einen

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