616 - Die Hoelle ist ueberall
und seinem eigenen Vorgesetzten, Monsignore Franzik, durchaus bekannt. Sie alle wussten mehr, als er geahnt hatte. Als dies alles mit der Exhumierung des früheren Gemeindepfarrers in jenem kleinen spanischen Dorf begonnen hatte, hätte er sich nicht träumen lassen, dass die Angelegenheit so ernst sein könnte.
Der Jesuit ging durch den Eingangsbereich zum Aufzug. Er fuhr hinunter bis zur Cafeteria und setzte sich mit einem dop-pelten Espresso an einen Tisch. Nach wenigen Minuten erschien die schlanke Gestalt von Ignatius Franzik an der Schwelle. Er blickte ernst drein, gab sich jedoch zuversichtlich – die gleiche Haltung, die auch zwischen Ärzten üblich ist, die ihre todkranken Patienten aufgegeben haben.
»Setz dich, Albert«, sagte der Kardinal zu seinem Zögling, der sich erhoben hatte, und begleitete seine Worte mit einer Geste. »Keine Formalitäten, bitte.«
»Danke, Monsignore.«
»Gestern Abend habe ich mit Giulio telefoniert. Er hat mir gesagt, dass du einen starken Eindruck bei ihm hinterlassen hast.«
»Er hat mich auch sehr beeindruckt. Vor allem mit dem, was er mir erzählt hat.«
»Ich verstehe, dass du verwirrt bist. Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, dass ich dich über gewisse Details bisher im Unklaren gelassen habe.«
»Details?«
Cloisters Stimme klang eher ungläubig denn verärgert.
»Ja, ja, ich gebe zu, es sind mehr als nur Details. Viel mehr. Dennoch, du verstehst sicher, dass es etwas ist, was nicht allgemein bekannt werden darf.«
»Aber Monsignore, ich führe jetzt schon seit vielen Jahren solche Nachforschungen durch, und ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, wenn ich Angst hatte, wenn mich etwas be-drückt hat oder wenn mein Geist in Aufruhr war. Das soll jetzt nicht unbedingt ein Vorwurf sein. Ich bin nur ein wenig verletzt.«
»Das bedauere ich. Aber wichtiger als unsere persönliche Betroffenheit ist es, zum Grund des Problems oder der Frage vorzustoßen, oder wie wir es auch nennen wollen. Wir sind alle verwirrt, Albert. Bevor du hinunter in den geschlossenen Bereich des Archivs gehst, will ich dir erzählen, was einem jungen Priester wie dir zugestoßen ist, der auch für die Wölfe gearbeitet hat. Er war bereits einige Zeit dabei, als ich zum Präfekten ernannt wurde. Mein Vorgänger Guethary hatte mir nur Gutes von ihm erzählt. Er war Belgier und arbeitete in den Missionsstationen in Afrika. Dort entdeckte er, dass es eine Welt hinter der sichtbaren Welt gibt. Das sollte für einen Geistlichen selbstverständlich sein, aber häufig gerät es in Vergessenheit. So viele von uns scheinen zu leben, als wäre dieses unser einziges Leben … Wie auch immer«, fuhr der Kardinal fort, »ich schickte jenen jungen Mann namens Horace nach New Orleans mit der Aufgabe, einigen Fällen von schwarzer Magie nachzugehen. Das war 1981. Als er dort ankam, hatte man gerade ein schwarzes Albinokind für ein Voodooritual entführt. In New Orleans wird mehr Voodoo praktiziert als sonst wo auf der Welt, einschließlich Haiti. Es wundert mich nicht, dass diese Stadt die Antithese von Jerusalem, der drei-fach heiligen Stadt, ist. New Orleans ist die vierfach verfluchte Stadt: von den Christen, den Muslimen, den Juden und den amerikanischen Ureinwohnern. Also, es war Halloween, der heidnische Vorabend von Allerheiligen. In jener Nacht wurde am Rande des French Quarter ein Ritual gefeiert, das nur die Tarnung für das eigentliche Ritual darstellte. Pater Horace konnte sich dort als Begleiter eines örtlichen Journalisten ein-führen. Der makabre Zweck des Rituals war, aus der Ferne den Tod eines Menschen zu bewirken. Der Polizei der Stadt war der Zutritt verwehrt, und die Behörden mischten sich lieber nicht in diese finsteren Praktiken ein. Pater Horace wusste, was da in Wirklichkeit geschah. Irgendwo in der Nä-he des schmutzigen Innenhofs musste sich ein echter Bokor verborgen halten, ein Praktiker der schwarzen Magie, ganz ohne Trommeln, leeren Blick oder frenetische Tänze. Man hatte das Albinokind wegen seiner widernatürlich weißen Hautfarbe entführt, und das bedeutete, man würde eine Voo-doopuppe anfertigen, und das Kind würde dafür leiden müs-sen. Und es würde keine von den Puppen sein, die man an jeder Ecke der Stadt kaufen kann. Pater Horace gelang es, in einem Labyrinth enger, dunkler Gassen den Tempel des Bo-kor zu finden, und das arme Kind. Er wollte sich wieder zu-rückziehen, um die Polizei zu verständigen, doch das konnte er nicht mehr. Sie entdeckten ihn.
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