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616 - Die Hoelle ist ueberall

Titel: 616 - Die Hoelle ist ueberall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Zurdo
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Körper Besitz ergriffen hatte. Der alte Mann sprach stockender denn je, sicherlich aufgrund des Beruhigungsmittels. Er war sehr schwer zu verstehen, doch Audrey fiel ein, dass er bei einem früheren Be-such von einer großen weißen, blutbefleckten Feder gesprochen hatte.
    »Die Federn waren voller Blut, Daniel?«
    Die Nonne warf Audrey einen vorwurfsvollen Blick zu.
    »Daniel muss sich ausruhen.«
    »Die Federn waren … weiß … und schwarz. Weiße … und schwarze … Flügel. Blut. Alle … tot.«
    »Wovon sprichst du, Daniel?«
    »Da entbrannte im Himmel ein Kampf«, antwortete die Oberin an Daniels Stelle. Ihre Stimme hallte traurig im Zim-mer wider. »Michael und seine Engel erhoben sich, um mit dem Drachen zu kämpfen. Der Drache und seine Engel kämpften …«
    »… aber sie konnten sich nicht halten, und sie verloren ih-ren Platz im Himmel«, schloss Audrey.
    Ihre Eltern hatten sie jahrelang genötigt, jeden Tag Passagen aus der Heiligen Schrift zu lesen. Dann hatten sie ihr Fra-gen gestellt, und wenn sie die richtige Antwort nicht gewusst hatte, war sie sehr schwer bestraft worden. Noch heute erinnerte sich Audrey an zahllose dieser Passagen.
    Dieser sonderbare neue Alptraum war ein weiterer Knoten in der verworrenen Angelegenheit, zu der Daniels Fall sich entwickelt hatte. All dies war für Audrey nur schwer zu fas-sen. Und obendrein war es völlig unerwartet für sie gekommen. Der Ausgangspunkt war eine harmlose Bitte der Oberin um Hilfe in einem Fall von posttraumatischem Stress gewesen. Ungewöhnlich daran war nur die Tatsache gewesen, dass der Patient geistig behindert war. Ihre erste Begegnung mit Daniel im Park des Altenheims war völlig belanglos gewesen. Doch bei der zweiten hatte die Situation sich gewandelt … Alles hatte sich verändert, als dieser andere Daniel aufgetreten war und die Statue von John Harvard erwähnt hatte. Seit je-nem Moment war nichts mehr normal. Und der jüngste Vorfall bestätigte nur, dass die Realität aus den Fugen geriet. Aud-rey spürte, dass sie allmählich die Kontrolle verlor. Nicht bloß über die psychotherapeutische Behandlung ihres Patienten, sondern über alles – über sich selbst, ihren eigenen Verstand. Nun fragte sie sich, ob sie überhaupt jemals auch nur die geringste Kontrolle über das gehabt hatte, was mit Daniel geschah. Sie benötigte nicht lange für die Antwort, sie lautete nein. Immer stärker hatte sie den Eindruck, ein Getriebe hätte sich in Gang gesetzt, auf das sie keinen Einfluss hatte, und dass sie selbst und jeder in Daniels Umfeld nur Zähnchen in die-sem Getriebe waren. Doch Audrey hatte nicht die geringste Ahnung, wohin dies sie alle führen würde.
    »Ich muss gehen«, sagte die Oberin resigniert. »Ich kann meine Pflichten nicht länger vernachlässigen. Macht es dir etwas aus, bei ihm zu bleiben?«
    »Überhaupt nicht.«
    »Danke, Audrey. Aber versprich mir, dass du ihm heute keine Fragen mehr stellst.«
    »Versprochen.«
    Die Nonne küsste Daniel auf die Stirn und verließ das Zimmer.
    »Gott schütze dich, mein Sohn.«

12
    Rom
    Albert Cloister durchquerte eiligen Schrittes den Innenhof, der die Apostolische Bibliothek vom Geheimarchiv trennte. Es war ein unfreundlicher Morgen nach drei kalten, aber sonnigen Tagen. Der bleigraue Himmel verhieß Regen und schien die Stimmung des Jesuiten widerzuspiegeln. Am Vor-tag war er in Padua gewesen und hatte mit dem alten Bruder Giulio gesprochen, einem zweifellos außergewöhnlichen Mann, der seine Zweifel und seinen Wissensdurst jedoch nur verstärkt hatte. Deshalb war er nun hier, auf dem Weg zur bedeutendsten Einrichtung für historische Forschungen, ei-nem der geheimnisumwittertsten Orte der Welt, dem Archiv, das die meisten alten Urkunden, Handschriften, Briefe und Kodizes beherbergte. Seine insgesamt beinahe einhundert Regalkilometer bargen Texte, die seit Jahrhunderten nicht mehr das Licht des Tages erblickt hatten, was sich, ihrem In-halt nach zu urteilen, auch in den nächsten hundert Jahren kaum ändern würde. Dies galt insbesondere für einige apokryphe Texte, die inhaltlich weit über die hétérodoxe Sicht der Nag-Hammadi-Schriften oder der übrigen bekannten Apokryphen hinausgingen.
    Cloister war sicher, dass der Kodex, von dem der Mönch gesprochen hatte, einer dieser geheimen apokryphen Texte war. Was ausgesehen hatte wie die unzusammenhängenden Teile eines Puzzles, von dem niemand wusste, ergab allmäh-lich einen Sinn und war anderen Personen wie dem alten Mönch

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