616 - Die Hoelle ist ueberall
Jackentasche hatte er sein Diktiergerät, in der anderen eine Digitalkamera, und unter dem Arm trug er sein Notizheft. Das Frühstück ließ er ausfallen. Im Lauf der Nacht hatte in seinem Kopf eine Idee Gestalt angenommen. Er war zwar müde, doch zugleich hellwach. Er wollte zum Vendange Building gehen, um zu sehen, was er dort in Erfahrung bringen konnte. Wie das Wesen, das aus Daniels Mund gesprochen hatte, ihn dort »erwarten« könnte, vermochte er sich nicht zu erklären.
Unterwegs rief er von seinem Handy aus bei seinem Vorgesetzten in Rom an. Er berichtete ihm von den jüngsten Ereignissen und erläuterte sein Vorhaben. Kardinal Franzik gab ihm seinen Segen, ohne weitere Fragen zu stellen. Er wusste aus Erfahrung, dass es besser war, die Berichte abzuwarten, als seine Mitarbeiter zur Unzeit zu bedrängen. Cloister vertraute er mehr als jedem anderen der Wölfe Got-tes, er liebte ihn wie einen Sohn. Hoffentlich würden diese Ermittlungen nicht sein Untergang sein.
Wie Cloister am vergangenen Nachmittag festgestellt hat-te, stand das Vendange Building an der Ecke Dartmouth Street und Commonwealth Avenue. Der Priester blieb auf dem Mittelstreifen vor dem Denkmal für die neun Feuerwehrleute stehen. Erschüttert gedachte er der Toten und ihrer Angehörigen. Eine menschliche Tragödie. Dann sprach er ein stilles Gebet und ging über die Straße auf das Vendange Building zu. Hinter einem Rundbogen befand sich ein geräumiger Eingangsbereich mit einer vornehmen, wenn auch altmodischen Einrichtung vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Dieser Raum verströmte aus allen Poren alte Eleganz.
»Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?«, fragte lächelnd der junge Pförtner, der in dunkler Uniform an einem Tisch saß und Zeitung las.
Cloister war in Zivil. Wenn er einen Auftrag erledigte, war es häufig besser, nicht den schwarzen Anzug mit der Halsbinde zu tragen, der ihn automatisch als Priester auswies.
»Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, ob Sie mir weiterhelfen können.«
»Ich werde es versuchen.«
»Ich bin Journalist und schreibe einen Artikel über die Wahrzeichen Bostons und ihre Geschichte.«
Mit dieser Lüge wollte der Jesuit sich Erklärungen ersparen. Der Beruf des Journalisten hatte ihm schon bei anderen Aufträgen als Tarnung gedient.
»Dieses Gebäude ist eins der wichtigsten!«, rief der junge Mann. »Aber klar, das wissen Sie sicher schon. Es wurde vor fast einhundertfünfzig Jahren erbaut, und nach dem großen Brand 1971 musste man es wieder aufbauen. Haben Sie das Denkmal gegenüber auf dem Mittelstreifen gesehen?«
Man musste einräumen, dass der Junge hilfsbereit war, aber wenn er sich schon bezüglich des Brandjahrs irrte – nicht 1971, sondern 1972 –, dann würden seine Informationen wohl nicht von allzu großem Nutzen sein. Doch Cloister gab noch nicht auf.
»War hier nicht früher einmal eine Kirche?«
»Eine Kirche?« Der Pförtner blickte so verdutzt drein, als könnte er sich das nun überhaupt nicht vorstellen. »Von einer Kirche habe ich noch nie was gehört. Sie meinen nicht zufäl-lig die Kapelle des früheren Hotels?«
»Nein, nein. Ich meine eine alte Kirche, die genau hier stand, bevor es dieses Gebäude gab.«
»Tja, tut mir leid, aber von dieser Kirche weiß ich nichts. Aber …«
»Ja?«
»Kann gut sein, dass mein Vater sie kennt. Warten Sie ei-nen Augenblick, ich hole ihn. Bleiben Sie hier, bin gleich wieder da.«
Nach wenigen Minuten kehrte der junge Mann in Begleitung eines älteren, leicht gebeugten Mannes zurück. Er hatte das Gesicht eines Menschen, dem alle Lebensfreude fremd war. Cloister warf ihm einen liebenswürdigen Blick zu, der mit einem eisigen Blick erwidert wurde.
»Das ist der Journalist«, sagte der Junge. »Er möchte wissen, ob hier früher eine Kirche war.«
»Ja, hier war wirklich einmal eine Kirche. Aber das ist lan-ge her. Wir haben immer hier gelebt. Ich habe früher im Ho-tel gearbeitet, wie mein Vater. Die Kirche, das war lange da-vor. Für welche Zeitung arbeiten Sie?«
»Es ist keine Zeitung, sondern eine Zeitschrift: Limits.«
»Kenne ich nicht«, sagte der Mann. Er warf seinem Sohn einen argwöhnischen Blick zu. »Du etwa?«
»Ich auch nicht.«
»Sie ist neu«, unterbrach sie Cloister. »Logisch, dass Sie sie nicht kennen. Wir haben gerade erst angefangen und sind voller Enthusiasmus. Wir haben ein kleines Budget für Leute, die uns zuarbeiten.«
Geld war fast immer der Hauptschlüssel, der die meisten Türen
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