616 - Die Hoelle ist ueberall
einmal einen so heftigen Regen erlebt zu haben. Das gütige Herz des Pfarrers war von Mitleid mit den bedauernswerten Geschöpfen erfüllt, die draußen auf der Straße unterwegs wa-ren. Es konnte keine trockene Stelle mehr in der Stadt geben. Doch in der Kirche war es trocken. Hier war das Trommeln des Regens nur gedämpft zu hören; der Rhythmus wirkte einschläfernd. Der Priester merkte, dass seine Lider sich endlich von selbst schlossen. Kurz darauf war er eingeschlafen.
Er träumte von einem idyllischen Tal, in dem eine Kapelle stand. Das makellose Weiß einer Herde Schafe, die in der Nähe weideten, vervollständigte die pastorale Szene. Die Glocken der Kapelle läuteten, doch die Schafe wurden nicht unruhig.
Der Pfarrer dachte, die Glocken müssten zur Abendmesse rufen, doch er sah, dass die Tür geschlossen blieb. Es war niemand in der Kapelle, aber die Glocken läuteten immer weiter mit einer Beharrlichkeit, die allmählich lästig wurde.
Langsam öffnete der Pfarrer die Augen. Zunächst war er desorientiert, begriff nicht, dass er in seiner Kirche eingeschlafen war. Die Erinnerung an den Traum verflüchtigte sich. Er wusste nur noch, dass unentwegt Glocken geläutet hatten. Immer noch ein wenig desorientiert, erkannte er nicht gleich, dass es an der Tür klingelte.
»Schon gut! Ich komme ja schon! Wenn Sie so weitermachen, brennt gleich die Klingel durch …«, rief der Priester gereizt, weil man ihn geweckt hatte.
Raschen Schrittes lief er durch den Gang. Vor der Holztür zog er nochmals den Gürtel des Morgenmantels über dem Pyjama fest und öffnete dann. Sogleich drangen eine Regen-böe und ein eisiger Wind in die Kirche. Dem Pfarrer schoss der absurde Gedanke durch den Kopf, die Frau, deren Silhou-ette sich vor ihm abzeichnete, habe Regen und Wind erst mitgebracht. Er erkannte sie nicht, dabei war sie keine Frem-de.
»Was wollen Sie?«, fragte der Priester unwirsch.
»Die Beichte, Vater. Ich muss beichten. Jetzt gleich.«
»Kann das nicht bis morgen warten? Wenn man sich um diese Uhrzeit die Beichte abnehmen lassen will, muss man schon in Todesgefahr sein, und das sind Sie ja wohl nicht.«
Die Frau lächelte bitter und wiederholte drängend: »Ich schwöre bei Gott, dass ich beichten muss. Jetzt.«
»Schon gut, kommen Sie herein. Sie sind ja völlig durch-nässt«, erwiderte der Priester und trat zur Seite, um sie hinein zu lassen. »Aber sprechen Sie den Namen Gottes nicht leichtfertig aus.«
»Danke, Pater Litwa.«
Die Vertrautheit, mit der die Frau seinen Namen aus-sprach, wirkte wie Balsam für die Seele des Priesters. Schlechte Laune und Reserviertheit waren wie weggeblasen.
»Wer bist du, mein Kind? Kenne ich dich?«
»Audrey Barrett … Die kleine Audrey.«
»Die kleine … Ah, jetzt erinnere ich mich. Die Familie Barrett, sicher. Wo hab ich nur meinen Kopf gelassen? Du und deine Eltern, ihr habt sonntags nie beim Gottesdienst gefehlt und ihr habt jeden Feiertag eingehalten. Ich habe dich nicht erkannt, verzeih. Es ist so viel Zeit vergangen …«
»Ja. Ich war seit zwanzig Jahren nicht mehr in New Lon-don.«
»Na, da hast du dir aber eine Nacht ausgesucht für deine Rückkehr! Was für ein höllisches Wetter.«
»O ja, Sie wissen gar nicht, wie recht Sie haben«, lautete ihre rätselhafte Antwort.
»Gib mir deinen Mantel und deine Mütze. Ich hänge sie zum Trocknen auf.«
»Lassen Sie ruhig, Pater.«
»Aber sie sind völlig durchnässt …«
»Das macht nichts. Ich bleibe nicht lange.«
»Wie du willst.«
Der Priester führte sie ins Kirchenschiff.
»Setz dich und erzähl mir, warum du in einer solchen Nacht hierherkommst, um zu beichten. Sind deine Sünden so schwerwiegend?«
Die beiden nahmen auf einer der Holzbänke Platz. Audrey seufzte. Mehr brauchte es nicht, um dem Priester zu zeigen, in welcher Bedrängnis sie war. Audrey kamen erneut Zweifel. Sie war verwirrt und schwankte unentwegt von einem Ex-trem ins andere. Gerade eben hatte sie noch unbedingt beichten wollen, doch nun sagte sie sich, sie mache sich etwas vor, es habe sowieso keinen Sinn.
»Ob ich beichte oder nicht, meine Seele ist sowieso verdammt.«
»Das kann nicht sein. Gott versteht all unsere Fehler. Auch die schlimmsten.«
Was bei dem Exorzismus vorgefallen war, hatte Audreys geringe Kräftereserven aufgezehrt. Doch die Gegenwart dieses guten, liebenswürdigen Mannes, der stets freundlich zu ihr gewesen war, gab ihr einen Teil ihrer Energie zurück, und – vielleicht – auch ein wenig
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