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616 - Die Hoelle ist ueberall

Titel: 616 - Die Hoelle ist ueberall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Zurdo
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wenn er schlief.
    Es war kalt, doch die Straße war in die warmen Orangetöne des Sonnenuntergangs getaucht. Längliche bauschige Wolken überzogen den tiefblauen Himmel und reflektierten das kupferfarbene Abendlicht. Aufs Geratewohl lief der Priester los. Er schlenderte zwei Stunden umher, blieb von Zeit zu Zeit ste-hen, um in ein Schaufenster zu sehen oder ein Veranstaltungs - oder Filmplakat zu betrachten. Allmählich fühlte er sich ruhiger. Er musste seine innere Anspannung abbauen. Seit Tagen war er viel zu angespannt, und unter Druck arbeitet es sich nicht gut. Er bog in die Dartmouth Street ein und schlenderte dann unbekümmert die Commonwealth Avenue entlang.
    Plötzlich sah er es.
    Ein großes altes Stuckgesims mit einem Schild, Teil der Fassade eines wunderschönen, in einer Mischung aus Neo-klassizismus und viktorianischem Stil erbauten Gebäudes, hat-te seine Aufmerksamkeit erregte.
    Die Aufschrift auf dem Schild veranlasste seine Nebennie-ren, abrupt einen regelrechten Adrenalinschwall auszuschüt-ten. Urplötzlich fühlte er sich berauscht. Was er dort sah, ver-blüffte und entsetzte ihn zugleich: VENDANGE HOTEL.
    Französisch! Darauf wäre er nicht so ohne weiteres gekommen. Doch dieses Gebäude war ohne jeden Zweifel die »Herberge Zur Weinlese«.

19
    Connecticut
    In der Kneipe an der Landstraße stank es nach Schweiß und Bier. Die beinahe völlige Stille, die Audrey in der letzten Stunde begleitet hatte, wurde von ohrenbetäubendem Lärm abgelöst. Ungerührt ging sie an die Theke und ertrug klaglos die Bierspritzer und unfreiwilligen Rippenstöße derer, die um sie herum fröhlich tanzten.
    »Wissen Sie, wie ich nach New London komme?«
    Diese Frage stellte Audrey dem Inhaber der Kneipe, der auch bediente. Er war ein dicker Mann um die fünfzig, einer von denen, die immer guter Laune zu sein schienen. Doch nun fragte er besorgt: »Geht es Ihnen gut?«
    Audreys bestürzte, wie geistesabwesende Miene hätte bei jedem Besorgnis ausgelöst. Sie warf ihm einen merkwürdigen Blick voll ungerechtfertigter Neugier zu, als ob ihr diese Frage noch nie jemand gestellt hätte oder sie sie nicht verstünde.
    »Nein, es geht mir nicht gut.«
    Da fielen dem Inhaber Audreys wirrer Blick und ihre gerö-teten Augen auf, und er dachte, sie sei womöglich drogen-süchtig. Die Besorgnis des Mannes wich einer strengen Mie-ne.
    »Hören Sie, die Leute hier haben nichts übrig für diesen Drogenscheiß …«
    Doch Audrey musterte ihn nur nochmals mit dieser seltsamen Neugier.
    »Wissen Sie jetzt, wo New London ist oder nicht?«
    Er benötigte einen Augenblick für die Entscheidung, ob er diese Frau nun aus seinem Lokal werfen oder ihr sagen sollte, was sie wissen wollte. Schließlich nahm er eine der Straßen-karten, die in einem Ständer zum Verkauf standen und faltete sie vor Audrey auf der Theke auseinander.
    »Wir sind hier«, sagte er. Mit einem dicken Finger deutete er auf einen bewaldeten Bereich um mehrere Seen. »Sie müs-sen der Straße weiter folgen und dann hier abbiegen« – er zeigte es ihr mit dem Finger –, »dann kommen sie zur Interstate fünfundneunzig. Und auf der fahren Sie immer gera-deaus bis nach New London.«
    Audreys Dank ging im grölenden Gelächter eines Betrun-kenen unter. Sie wiederholte ihn nicht. Stattdessen fragte sie: »Was kostet die Karte?«
    »Fünf dreiundsiebzig.«
    In Audreys Brieftasche befanden sich nur Kreditkarten, mit denen sie in dieser Kaschemme nicht würde bezahlen können. Daher wühlte sie in ihrer Tasche nach Münzen.
    »Nehmen Sie sie«, sagte der Inhaber verdrießlich. Er war immer mehr davon überzeugt, dass diese Frau unter Drogen stand. »Ich schenke Ihnen die Karte. Aber gehen Sie jetzt.«
    Erneut in sich gekehrt, wandte Audrey sich zum Gehen. Einen Meter vor der Tür wurde sie angesprochen.
    »Möchtest du tanzen, Schätzchen? Ich habe extra für dich ein besonderes Lied aufgelegt.«
    Es war ein junger Mann von bäurischem Aussehen. Sein Timing war perfekt, denn in genau diesem Augenblick spielte die Wurlitzermusikbox das von ihm ausgewählte Lied. Es war The Rose von Bette Middler. Als sie unschlüssig schwieg, ging der Mann ans andere Ende der Theke, zweifellos, um dort irgendeiner anderen Frau genau dasselbe zu sagen. Nur dass dieses Lied wirklich für Audrey war. Nur für sie allein. Denn Audrey kannte einen Gärtner, der eine tote Blume besaß, die er seine Rose nannte. Und es hatte eine Zeit gegeben, als sie dieses Lied oft gesungen hatte. Ihr gefielen

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