616 - Die Hoelle ist ueberall
Ursache des Aufblitzens lag zwischen mehreren großen Trümmerteilen verborgen. Er musste das Diktiergerät abnehmen, damit es nicht auf dem Boden aufschlug, legte es zur Seite und tastete mit den Händen umher, bis er auf einen spitzen Gegenstand stieß. Als er ihn aufnahm, schnitt er sich in den Finger, und ein dicker Blutstropfen fiel zu Boden. Es war eine Glasscherbe. Cloister holte erneut sein Taschentuch hervor, faltete es, um zu vermeiden, dass die schmutzige Seite mit der Wunde in Berührung kam, und wickelte es sich um den Finger.
Es schien hier nichts zu geben, was man hätte relevant nennen können. Cloister ging zum Altar zurück, um sein Notizheft wieder an sich zu nehmen, da entdeckte er etwas auf der Altarplatte. Mit der unverletzten Hand wischte er den Staub ab und erblickte drei Ziffern: 109. Die Zahl bedeutete ihm nichts, doch sie war mit etwas geschrieben worden, das wie … aber das war absurd – es sah aus wie Blut, der Saft des Lebens. Vielleicht das Blut derer, die hier unter solch traurigen Umständen gestorben waren? Der Jesuit schob diesen Gedanken beiseite und hatte erneut ein Gefühl, das er schon beim Betreten des Raums gehabt hatte, ein Gefühl von Beklemmung, dem er keine Bedeutung beimessen wollte, weil er es sich mit Sicherheit nur einbildete.
Doch er irrte sich. In dieser desakralisierten Krypta war sehr wohl etwas Relevantes geschehen, und zwar in dem Moment, als er sich an der Glasscherbe geschnitten hatte. Sein Diktiergerät hatte sich von selbst eingeschaltet, ohne Einwir-kung seiner Stimme oder der irgendeiner anderen Person. Das Gerät zeichnete nur auf, wenn es Laute wahrnahm. Irgendetwas hatte auf den Speicher des Gerätes eingewirkt. Es war etwas aufgenommen worden; etwas, das nicht einmal zwanzig Sekunden dauerte.
Cloister fotografierte den Altar und stemmte die Arme in die Seiten, während er sich ein letztes Mal in der Krypta um-sah: Er stand in der Raummitte und drehte sich um sich selbst, bis er den gesamten Raum einmal ausgeleuchtet hatte. Wonach er suchte, wusste er nicht. Und dennoch hatte er es gefunden.
Der Pförtner lehnte an der Eingangstür. »Sie gehen schon?«, fragte er Cloister, als er ihn aus dem Kohlenschuppen kom-men sah.
»Ja. Ich komme später wieder. Mit einer stärkeren Lampe, damit ich Fotos machen kann.«
»In Ordnung. Und danke, dass Sie meinem Vater das Geld gegeben haben. Bitte entschuldigen Sie, dass er so … selbst-süchtig war.«
Der arglose Blick des jungen Mannes überraschte den Priester kaum. Er lächelte ihn an.
»Keine Sorge. Seine Hilfe war sehr wertvoll für mich. Ich danke Ihnen beiden für ihre Freundlichkeit und Hilfsbereit-schaft. Danke für alles.«
Cloister ging die Commonwealth Avenue entlang. Er hätte die Erfahrung seines Besuchs in der alten Krypta unmöglich in Worte fassen können. Im Jesuitenkolleg schaltete er seinen Laptop ein und öffnete das Textdokument, in dem er alle seine Anmerkungen zu den Ermittlungen sowie seine Ideen und geplanten Aktionen zusammentrug. Er schrieb einige neue Gedanken nieder, schaltete dann das Diktiergerät ein und drückte den Wiedergabeknopf. Seine Worte wurden ohne die Sprechpausen wiedergegeben. Cloister übertrug sei-ne Beschreibung der Krypta und seine Wahrnehmungen in das Textdokument. Er erinnerte sich noch an seinen letzten Satz, der sich auf jenes Gefühl der Beklemmung bezog. Doch nach dieser Notiz war die Audiodatei nicht zu Ende. Das Ge-rät hatte noch etwas aufgenommen. Eine andere Stimme, kaum mehr als ein Flüstern. Zunächst wäre Cloister beinahe darüber hinweggegangen, weil er nicht damit gerechnet hatte. Es traf ihn völlig unvorbereitet, senkte sich wie ein Alptraum auf ihn herab. Das Flüstern hallte ohrenbetäubend laut in sei-nem Kopf wider. Die Stimme sprach englisch, sie war männ-lich, leise, aber gut zu verstehen. Der Priester rieb sich die Stirn und bemerkte, dass er am ganzen Körper zitterte, so dass er sich kaum auf dem Stuhl halten konnte.
Du bist schon hier? Ich habe dich erwartet. Ich freue mich sehr, dass du gekommen bist. Wirst du mein Freund sein? Ich weiß, dass du mich kennenlernen willst. Du kannst gar nicht anders. Du willst die Wahrheit erfahren, und ich kenne sie.
Cloister war erschüttert wie nie zuvor. Angst kroch ihm in die Glieder wie eine zähe schwarze Flüssigkeit. Nun wusste er ohne jeden Zweifel – falls er denn je daran gezweifelt hatte: All dies galt ihm. Er steckte ganz tief drin in dieser Sache. Diese
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