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617 Grad Celsius

Titel: 617 Grad Celsius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Eckert
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Denkmal schützte, und hielt Ausschau.
    Es war frostig kalt. Die Leute waren in Daunenjacken gehüllt, Anoraks, Wollmützen, Fäustlinge. Anna fand Karin an einem Verkaufsstand, der Anstecker und Aufkleber feilbot: Friedenstauben, Peace-Zeichen, Sprüche gegen den US-Präsidenten.
    »Fast wie früher in den Achtzigern«, sagte Karin. »Erinnerst du dich, Anna? Jo hat dich den ganzen Weg durch Bonn geschleift. Damals warst du sechs oder sieben.«
    »Meine verrückte Mutter. Ich glaub, ich hab’s verdrängt. Jo hat es geschafft, dass ich einen Großteil meiner Kindheit in Angst vor dem Weltuntergang verbracht habe.«
    »Weißt du, wie es ihr geht?«
    »Gut, hoffe ich. Manchmal schafft sie es monatelang, trocken zu bleiben. Mein Vater kümmert sich um sie. Vielleicht nimmt sie gerade in Köln an einer Demo teil. Wo steckt eigentlich Daniel? Wollte er nicht mitkommen?«
    »Er glaubt nicht an Demos und Lichterketten.«
    »Meinen Vater konnte ich auch nicht dazu bewegen.«
    »Der ist wie Michael. Alte Schule. Demonstranten sind ihnen suspekt, selbst wenn sie ihre Ziele teilen. Die beiden wirst du nicht mehr ändern.«
    »Wo habt ihr euch eigentlich kennen gelernt, Michael und du?«
    Karin lachte. »Auf einer Party beim Reise-nach-Jerusalem-Spielen. Ich gebe dir einen guten Rat, Anna. Heirate niemals einen Kerl, der dir den Stuhl unterm Hintern wegzieht!«
    Sie hörten eine Weile den schrägen Klängen zu. Der Musiker sei ein blinder Iraki, erklärte Karin. Angeblich hatte er sein Augenlicht verloren, weil in seiner Heimat wegen des jahrelangen Boykotts die Medikamente fehlten.
    Anna erkundigte sich nach Karins Job – Gartendesign.
    »Nächste Woche soll ich nach Mallorca fliegen«, antwortete Daniels Mutter. »Ein Düsseldorfer Immobilienkrösus will das Gelände seiner Finca auf japanisch umgestalten, inklusive Zen-Garten, Tempel und Glockenturm.«
    »Klingt nach ‘nem guten Honorar.«
    »Ja, damit kann ich Daniel eventuell eine Weile durchfüttern.«
    »Wie geht’s dem großen Künstler?«
    »Er hat sich einen Hund zugelegt, den er Picasso nennt und Pinsel apportieren lässt. Sein Galerist hat tatsächlich die ersten Bilder verkauft. Die Ausstellung im Kunstverein hat Daniel großen Auftrieb gegeben. Und dich zu malen macht ihm großen Spaß.«
    »Er porträtiert mich?«
    Karin schlug eine Hand vor den Mund. »Hätte ich das nicht sagen dürfen? Dein Vater hat es in Auftrag gegeben und Daniel ein paar Fotos überlassen. Jetzt habe ich vermutlich Bernds Geburtstagsüberraschung verdorben.«
    »Nicht so schlimm. Ich werde so tun, als hätte ich nichts gewusst.«
    »Und was macht deine Arbeit? Bernd sagt, du bist jetzt für Mordfälle zuständig.«
    »Es ist hochinteressant und die Leute auf der Dienststelle sind eine prima Truppe.« Das war ihre Standardantwort auf die Frage, die sie in den letzten Monaten häufig gestellt bekam. Anna hatte keine Lust, sich über Hohlköpfe zu beklagen, die nur Bürotratsch im Kopf hatten und sie um ihren vermeintlichen Draht zum Ministerpräsidenten beneideten. Und die gab es natürlich auch im KK 11.
    Der blinde Iraki wurde von der Bühne geführt. Eine Künstlerin redete, dann ein Pfarrer. Sie gaben sich optimistisch und appellierten an die Bundesregierung, den drohenden Krieg zu verhindern. Immerhin sei sie zu diesem Zweck wiedergewählt worden. Ab heute hatte Deutschland für ein halbes Jahr den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat und Gelegenheit, die Staatengemeinschaft zu überzeugen.
    Anna begann zu frieren.
    Es dämmerte, als sich der Zug in Richtung Königsallee in Bewegung setzte. Anna dachte an Sven Arnold, dem sie nach dem missglückten Versuch, ihn zu verführen, zweimal auf die Mailbox gesprochen hatte. Sie hatte ihm auch die Ankündigung der Friedensdemo gemailt. Laut ihrem Vater hatte er jedoch den Job im Landtagsbüro aufgegeben, um mit seiner Band auf Tournee zu gehen. Seit ein paar Tagen war er bereits unterwegs.
    »Warum ist dein Freund nicht hier?«, fragte Karin.
    »Lutz? Der weiß vor Arbeit nicht, wo ihm der Kopf steht.«
    »Auch am Samstag?«
    »In diesen Zeiten schaut keiner auf die Uhr oder auf den Kalender. Die Klienten machen Druck, anderswo gibt es sogar Entlassungen. Lutz ackert, als würde ihm die Kanzlei gehören. Dabei hat er noch nie eine Gehaltserhöhung bekommen.«
    »Das nennt man freie Wirtschaft.«
    »Bei mir oder bei deinem Mann wird die Wochenarbeitszeit erhöht ohne jeden Lohnausgleich. Wenigstens kann uns der Staat nicht auf die Straße setzen.

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