617 Grad Celsius
für eine Branche, die es auf Dauer nicht mehr geben wird?«
»Du redest schon wie die Opposition. Denk an die Menschen im Ruhrgebiet!«
»Klar, es sind deine Wähler.«
»Das ganze Land profitiert davon, wenn wir über eine eigenständige Energieversorgung verfügen. Koks-Kohle ist knapp geworden auf dem Weltmarkt. Wenn die Preise noch weiter steigen, wirst du mir Recht geben. Komm, Anna. Trinken wir auf unser Wohl und den Erfolg.«
Sie stießen an. Anna nahm nur einen kleinen Schluck und behielt ihn lange im Mund. Ein hervorragender Tropfen aus der Sammlung ihres Vaters.
Er sagte: »Hab ich dir erzählt, dass Sven Arnold wieder für mich arbeitet? Er ist gerade jetzt eine große Entlastung.«
»Hat es mit seiner Musikerkarriere nicht geklappt?«
»Ich glaube, die Band hat sich zerstritten. Ist auch besser so. Das Musikgeschäft geht schlechter denn je und die Zeiten sind nicht so, dass man ein solides Jobangebot ausschlagen sollte. Sven weiß, dass ich ihm über kurz oder lang etwas vermitteln kann.«
Die kleinen Koteletts waren zart und saftig. Anna versprach, sich so bald wie möglich für das Essen zu revanchieren, und rätselte, mit welchem Gericht sie sich am wenigsten blamieren würde.
Mit einer Umarmung verabschiedete sie sich. Hundemüde nach zwei viel zu kurzen Nächten. Den Spaziergang mit Picasso ließ sie heute aus.
Als sie im Bett lag, grübelte sie darüber nach, warum sie ihren Vater nicht über Uhlig ausgefragt hatte – und auch nicht über die Nacht, in der er anstelle der zuständigen Beamten den mordverdächtigen Odenthal vernommen hatte.
Sie mochte es einfach nicht glauben. Eine ungeheuerliche Geschichte.
Anna wälzte sich von der einen Seite auf die andere. In ihrer Tasche lag das bewährte Schlafmittel. Die Warnung des Arztes: Sie sind eine intelligente Frau und wissen, was Sie tun. Aber Sie dürfen es nur im Notfall nehmen.
Sie zog die Schublade des Nachtkästchens auf und kramte nach dem zweiten Band der Tagebücher ihrer Mutter.
Die Hoffnung, etwas über die Razzia zu erfahren, die zum Selbstmord Edgar Schwabs geführt hatte, wurde enttäuscht. Die Notizen begannen erst Mitte Januar 1977. Die Eltern waren gerade von den Flitterwochen zurückgekehrt, die sie in Mexiko verbracht hatten. Der Winter erschien ihnen nach dem Tropenurlaub umso kälter und die Wohnung, die sie an der Brehmstraße im Düsseldorfer Zooviertel gemietet hatten, war längst nicht komplett eingerichtet. Johanna Winkler listete Neuanschaffungen auf. Die Möbelgarnitur, den Farbfernseher. Alle Preise in Mark und Pfennig.
Bernd trat in die SPD ein und reaktivierte seine Kontakte zur Bergarbeitergewerkschaft. Uwe, sein Schwager, wechselte vom Amt des Staatssekretärs in einen Parteijob: Landesgeschäftsführer – in Annas Augen klang das nach Abstieg, aber auf seinem Weg an die Spitze hatte es offenbar geholfen.
Die beiden waren unterwegs, Johanna langweilte sich an den Abenden. Ebenso eintönig fand Anna zunächst die Aufzeichnungen – ein perfektes Schlafmittel, so hoffte sie.
Doch plötzlich änderte sich der Tonfall und Anna konnte das Heft nicht mehr aus der Hand legen.
26. Januar 1977
Er betrügt mich. Keine zwei Wochen nach unseren Flitterwochen muss ich mich fragen, ob es richtig war, diesen Mann zu heiraten.
Mir war unwohl, kam vorzeitig aus Köln zurück. Am Bahnhof einen Strauß Astern fürs Wohnzimmer gekauft. Als ich in der Brehmstraße aus der Straßenbahn stieg, verließ K. gerade das Haus. Sie hatte es eilig und bemerkte mich nicht.
Die Gläser in der Spüle stammten nicht vom Frühstück. Das Bett war auf B.s Art gemacht. Dass er die Blumen lobte, gibt mir Gewissheit. Sonst hat er nie einen Blick für so etwas. Er betrügt mich mit der Frau seines besten Freundes und er tut es in unserer Wohnung!
27. Januar 1977
Habe mich krankgemeldet. Observiere den ganzen Tag das Haus. Am Vormittag kommt ein Mann von der Parkettfirma. Offenbar will B. mich damit überraschen. Dabei tut es der Teppichboden noch. Folge B. mit dem Taxi, doch er fährt nur ins SPD-Haus.
Habe mir beim Observieren eine Grippe eingefangen.
28. Januar 1977
In der Firma verbreitet Edgars Lover Gerüchte. Er hat das Video abgeliefert, das wir im TV lancieren, sobald die posthume LP von Osiris in die Läden kommt.
Die Scheibe wird ein Megahit, der alles übertreffen wird. Hofft unser Chef.
U. erzählt allen Leuten, Edgar habe nie Heroin genommen, die Polizei habe es ihm untergeschoben. U. verkraftet den Tod unseres
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