617 Grad Celsius
S-Bahnstrecke, die parallel zu Nordkanal und Neersener Straße den Ortsteil Holzbüttgen vom Kaarster Zentrum trennte.
Das erste Haus umgab ein weiß lackierter Lattenzaun, vor dem zweiten lud eine grauhaarige Dame Abfälle in die gelbe Tonne. Vor dem nächsten lagen zwei Kinderfahrräder auf dem Rasen. Das Klingelschild am hintersten Haus: Lohse. Als beständiges Rauschen machte sich die Straße jenseits der Bahngleise bemerkbar.
Anna klingelte. Keine Reaktion. Sie umrundete die Häuserzeile. Hinter den Gärten standen die Garagen, zum Teil mit geöffnetem Tor. Anna musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass Michaels uralter Volvo-Kombi Rundscheinwerfer besaß.
Sie stiefelte durch Blumenbeete, die der gestrige Regen aufgeweicht hatte, und erreichte Michaels Terrasse. Die Tür stand einen Spalt weit offen. Durchzug und ›Champagnerluft‹ – die Vorliebe seiner verstorbenen Frau Karin. Anna stemmte die Schiebetür zur Seite.
»Michael?«
Sie trat ins Wohnzimmer. Bierflaschen auf dem Couchtisch, der Aschenbecher quoll über, Zeitungsseiten über den Teppichboden verstreut. In der Küche türmte sich schmutziges Geschirr in der Spüle. Das Badezimmer menschenleer, eine weitere Tür führte in den Keller.
Anna nahm die Treppe ins Obergeschoss.
»Michael!«
Sie fand ihn auf dem Bett sitzend und in Briefen wühlend. Seine Haare waren strähnig, sein Hemd falsch geknöpft.
Anna fielen die Sätze ihrer Mutter ein: Der arme Michael. Er tut mir leid.
Lohse sagte mit brüchiger Stimme: »Ich hab dir doch gesagt, dass du nicht herkommen sollst.«
»Warum hast du Peter Uhlig ermordet?«
Er starrte sie an.
Sie hoffte, dass er es abstreiten würde. Dass ein anderer seinen alten Volvo benutzt hatte. Dass es irgendwo ein zweites Auto dieser Art gab.
Draußen rumpelte die Bahn vorbei. Lohse stand auf und deutete aus dem Fenster. »Siehst du den Busch, der hinter den Gleisen steht? Ein hässliches Gewächs an einem beschissenen Ort. Direkt an der Landstraße. Die Autos verpesten ihn mit Abgasen. Betrunkene pinkeln ihn an. Man hat ihm einen Teil seiner Äste abgesägt. Aber er lebt und bekommt jedes Jahr Knospen. Ich bewundere ihn.«
»Warum, Michael?«
Er setzte sich wieder auf die Matratze. Tränen rannen über sein Gesicht. Er schleuderte die Briefe durch das Zimmer. Anna bückte sich nach einem. Daniel hatte ihn geschrieben. An seine Mutter Karin.
Anna wiederholte: »Warum hast du Uhlig erschlagen und das Haus an der Schützenstraße in die Luft gejagt?«
Michael brüllte: »I CH KONNTE DOCH NICHT WISSEN, DASS DORT M ENSCHEN LEBTEN ! E S WAR DOCH NUR EINE VERDAMMTE B AUSTELLE !«
Er schlug mit der Faust auf die Matratze. Dann bedeckte er sein Gesicht und schniefte.
Anna räumte Wäsche von einem Stuhl, setzte sich und wartete.
Nach einer Weile sagte Michael: »Ich hätte mir denken können, dass du dahinterkommen würdest.«
»Es gibt kein perfektes Verbrechen.«
»O doch. Es geschieht ständig. Nur ich bin zu dämlich dazu.«
»Warum, Michael? Sag es mir!«
»Der Kerl hat mich beschimpft, er hat sich lustig über mich gemacht. Die Scheißschwuchtel hat Daniel verführt und meine Frau ganz verrückt gemacht. Und er hat mich bedroht. Es war Notwehr, ehrlich, das musst du mir glauben!«
»Erzähl weiter.«
»Ich wollte die Leiche im Hofgarten ablegen, wo vor ein paar Jahren schon mal ein Homo nachts erschlagen worden ist. Dann fiel mir das Haus auf, an dem ich immer auf dem Weg zum Zahnarzt vorbeikomme. Eine Baustelle – da wohnt doch normal kein Mensch! Mein Gott, ich konnte doch nicht ahnen …«
Er schluchzte.
Anna fragte: »Was hattest du bei Uhlig zu suchen?«
»Ich wollte wissen, was Karin an dem Kerl gefunden hat.«
»Er war schwul.«
»Mag ja sein. Ich hab ihn sofort erkannt, auch wenn schon neunundzwanzig Jahre seit dieser Scheißrazzia vergangen sind. Er und Karin hatten sich nach dem Mord an Daniel getroffen. Nach ihrem Tod fand ich seine SMS-Botschaften auf Karins Handy. Ich hielt es nicht mehr aus. Dieser Kerl …«
»Was passierte?«
»Er beschimpfte mich. Wegen der Sache mit Edgar Schwab und der Razzia von damals. Mein Gott, das ist so lange her! Der Kerl war völlig besessen davon.«
»Du hast meinem Vater geholfen, Schwab als Dealer hinzustellen.«
»Deshalb hätte sich der Typ doch nicht umbringen müssen!«
»Und weiter?«
»Dann fragte Uhlig, ob ich auch Daniel ermordet hätte. Meinen eigenen Sohn!« Er schluchzte erneut. Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, ergänzte er:
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