617 Grad Celsius
»Und plötzlich … Er bedrohte mich mit dieser Waffe.«
Michael zog eine Pistole zwischen den Briefen hervor. Anna gefiel es gar nicht, dass der Lauf in ihre Richtung zeigte.
»Womit hast du ihn erschlagen?«
Der Freund ihres Vaters blickte sie an, als habe er sie nicht verstanden. Ein seltsamer Blick, als seien Lohses Gedanken wieder bei dem Busch auf der anderen Seite der Bahnlinie.
Sie sagte: »Hör mal, Michael, sein Schädel ist völlig zertrümmert, und zwar nicht vom Einsturz des Hauses.«
»Das kann die Rechtsmedizin nicht unterscheiden. Du bluffst.«
»Womit hast du es getan?«
Michael zögerte, dann sagte er leise: »Rohrzange.«
»Du dringst also mit einer Rohrzange in der Hand in Uhligs Wohnung ein. Vermutlich hattest du Handschuhe an, denn wir fanden keinerlei Fingerspuren im Loft des Künstlers. Du willst mir weismachen, dass so etwas Notwehr ist? Uhlig wollte sich schützen und bei der ersten Gelegenheit hast du deinen Vorsatz ausgeführt und ihm die Zange über den Kopf gezogen. Du hast sein Studio mit allen Videoarbeiten zerstört und Seiten aus seinem Adressbuch gerissen. K und L – du musstest davon ausgehen, dass Karin drinstand und wir die Verbindung zu dir herstellen konnten.«
»Wie hast du es erfahren, Anna?«
»Du musst dich stellen. Vielleicht lässt sich der Staatsanwalt von deiner Notwehrversion überzeugen. Wenn du ein umfassendes Geständnis ablegst, wirkt sich das auf das Strafmaß aus. Aber zähl bitte nicht auf mich. Ich werde dich nicht decken, Michael. Es tut mir leid.«
Wieder trat der seltsame Ausdruck in sein Gesicht. Anna fürchtete, der ältere Kollege würde anfangen zu betteln. An ihr Mitleid appellieren. Ihr womöglich sagen, dass sie seine Tochter sei.
Doch plötzlich hob er die Waffe.
»Nicht!«, schrie Anna und hechtete vor das Fußende des Bettes, um sich aus der Schusslinie zu bringen. Sie knallte mit dem Kopf gegen den Schrank.
Im gleichen Moment krachte die Pistole los.
Ihr Schädel schmerzte. Hinter den Schläfen klopfte der Puls. Sie registrierte, dass sie heftig keuchte, zwang sich zur Ruhe und blickte sich nach einer besseren Deckung um. Dabei fiel ihr Blick in den Wandspiegel über dem Sideboard.
Michael Lohse war zur Seite gekippt. Die Waffe lag neben seiner Hand. Seine Augen stierten gegen die Decke.
Anna rappelte sich auf. Der Nachhall des Schusses hing als Rauschen in ihren Ohren. Sie trat näher und tastete am Hals nach dem Puls des Kollegen. Keine Regung.
Ein hässlicher Fleck aus Blut und Gewebeteilen an der Tapete über dem Bett. Anna drehte Michaels Kopf. Der Schädel war sternförmig aufgeplatzt. Die Austrittswunde, vermutete Anna nach Größe und Lage. Demnach musste er sich in den Mund geschossen haben.
Die Nummer der Kriminaltechnik war in ihrem Handy gespeichert. Anna lief hinaus auf die Terrasse und gab die Meldung durch.
Dann drängte das Wenige, was sie im Magen hatte, unaufhaltsam nach oben und Anna beugte sich heftig würgend über eins der Blumenbeete, die Michaels Frau einst angelegt hatte.
Teil IV
Zwischen den Stühlen
Es steht geschrieben: Wir haben mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht mit uns.
Paul Thomas Anderson, Magnolia
43.
Die nächsten Stunden verbrachte Anna mit dem Tippen ihres Berichts und der Teilnahme an einer Reihe von Sitzungen, in denen sie der Mordkommission, der Führungsstelle der Zentralen Kriminalitätsbekämpfung unter Kriminalrat Engel, dem Polizeipräsidenten und seinem Pressesprecher ein möglichst faktengetreues Bild des Wahnsinns zu vermitteln versuchte – oder zumindest eine Ahnung dessen, was den KK-14-Mann Michael Lohse, den ehemaligen Partner ihres Vaters, umgetrieben hatte.
Dabei beschränkte sie sich strikt auf die Schützenstraße 18 und die acht Leichen, die in den Trümmern geborgen worden waren, sowie auf die unmittelbaren Hinweise, die zur Klärung des Falls geführt hatten. Daniel spielte nur eine Rolle, insofern es darum ging, das Motiv zu erklären: Lohses Verzweiflung über den Verlust von Frau und Sohn sowie sein Hass auf den Mann, der Daniel angeblich zur Homosexualität verführt hatte.
Über ihren wachsenden Zweifel an Odenthals Täterschaft im Fall Daniel verlor Anna kein Wort. Sie unterschlug auch Uhligs Versuche, den Ministerpräsidenten anzuschwärzen, sowie die alte Edgar-Schwab-Sache von 1976, in die ihr Vater verwickelt war.
Ela Bachs Panik: Die Staatskanzlei darf keinen Wind davon bekommen, dass Strom in Zusammenhang mit den
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