64 - Der verlorene Sohn 05 - Jäger und Gejagte
du berstest ja vor Zärtlichkeit!“
„Sie kommt aus einem aufrichtigen Herzen.“
„Das glaube ich dir. Hoffentlich aber siehst du ein, daß es mir schwer wird, mich von dir zu trennen.“
„Ich lasse dich auch nicht gern fort; da aber das Schicksal einmal beschlossen zu haben scheint, daß wir scheiden, so wollen wir uns drein fügen und nicht etwa eine Tränenflut vergießen, welche uns nur um unsere gute Stimmung bringen würde. Ich bin kein Freund unnützer Aufregungen.“
„Ich auch nicht. Also, soll es geschieden sein, so sei es bald und mit dem Mut starker Männer. Komm her und gib mir den Abschiedskuß, alter Freund!“
Er reichte ihm den Mund hin; der andere aber sagte:
„Danke sehr! Wen ich küssen soll, der muß ein appetitlicheres Maul haben als du!“
„Ganz wie du willst. Also, heute abend gehe ich; eher wirst du mich freilich nicht los. Du weißt, daß es einige Leute hier gibt, vor denen ich mich nicht sehen lassen kann.“
„Ah, deine guten Freunde von der Polizei!“
„Sie sind ja auch die deinigen. Nur bist du ihnen noch nicht in das Netz gegangen; aber ich denke mir, daß dies zur Zeit auch noch geschehen wird.“
„Soll mir nicht einfallen. Mich ergreift man nicht!“
„Oh, der Vogel, welcher so pfeift, geht am leichtesten und am ersten auf den Leim.“
„Lassen wir das! Wieviel Uhr gehst du?“
„Punkt Mittemacht.“
„Ich werde dir öffnen. Hast du vielleicht ein Geschäft?“
„Möglich; dich aber geht es nichts an!“
Von jetzt an blieb Bormann den ganzen Tag und Abend allein. Er erhielt Essen und Trinken auf sein Zimmer, sonst aber bekümmerte sich niemand um ihn.
Es begann am Nachmittag wieder zu regnen; als es Abend wurde, goß es in Strömen, und gar gegen Mittemacht heulte ein rasender Sturm und peitschte den Regen mit solcher Gewalt gegen die Straßen, daß es kaum möglich war, sich auf den Beinen zu erhalten. Das war ganz das Wetter, wie Bormann es brauchte. Es befand sich ganz sicher kein Mensch auf der Straße, als nur diejenigen, welche durch irgendeinen Umstand gezwungen waren, sich in diesen Aufruhr der Elemente zu wagen.
Punkt zwölf Uhr kam Wunderlich zu dem Akrobaten.
„Nun, bist du bereit?“ fragte er.
„Ja“, antwortete der Gefragte.
„Dein Gang muß sehr notwendig sein!“
„Warum?“
„Dieses fürchterliche Wetter –“
„Ist das allerbeste für mich.“
„Danke bestens. Also komm!“
„Warte! Hast du nicht einen Hammer?“
„Wozu?“
„Das geht dich nichts an!“
„Oho! Wenn man dich erwischt und findet den Hammer!“
„Was ist's dann weiter?“
„Man könnte auf mich geraten.“
„Steht dein Name auf dem Hammer?“
„Nein.“
„So bist du ja in gar keiner Gefahr. Übrigens hattest du früher nicht nur einen, sondern mehrere Hämmer. Wähle den aus, den du entbehren kannst.“
„Gut! Aber von mir hast du ihn nicht, geschehe, was da wolle!“
„Dummkopf! Sei nicht so ängstlich!“
Wunderlich führte ihn in den Flur hinab, holte einen Hammer, öffnete die Haustür und sagte dann:
„Hier ist er! Jetzt sind wir fertig.“
„Ja. Ich glaube nicht, daß wir uns jemals wiedersehen werden, so leid dir das auch tun wird.“
„Ich habe dir bereits gesagt, daß ich nicht weinen werde.“
„Schön! Ist heute noch etwas passiert?“
„Nein.“
„Hast du auch in Beziehung auf den Baron von Helfenstein nichts Neues gehört?“
„Gar nichts, als daß man in seiner Wohnung sehr streng ausgesucht hat.“
„Ist etwas gefunden worden?“
„Vieles.“
„Was zum Beispiel?“
„Weiß ich es? Glaubst du, daß die Herren vom Gericht es ausplaudern werden?“
„Na, auch der vorsichtigste Mensch verplappert sich einmal.“
„Du scheinst dich für den Baron sehr zu interessieren.“
„Möglich.“
„Gilt ihm dein heutiger Gang?“
„Was geht es dich an?“
„Nichts, gar nichts.“
„Also frage nicht!“
„So pack dich fort!“
„Oho! Klingt das wie der Abschied eines Freundes?“
„Wenigstens wie derjenige eines Mannes, der sich nicht gern in Gefahr begeben will.“
„Na, so gehab dich wohl. Nimm dich in acht vor dem Zuchthaus. Falschmünzer steckt man gern ein.“
„Und hüte du dich vor dem Galgen. Du scheinst sehr nahe bei ihm zu stehen.“
„Dummkopf! Also adieu!“
„Adieu! Auf Nimmerwiedersehen!“
Bormann trat hinaus in das Regenwetter. Der Orkan faßte seine riesige Gestalt mit solcher Gewalt, daß er Mühe hatte, sich aufrechtzuhalten. Er mußte sich förmlich ihm
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