64 - Der verlorene Sohn 05 - Jäger und Gejagte
entgegenlehnen.
Es begegnete ihm kein lebendes Wesen. Sogar die Nachtwächter hatten sich unter die Torwege zurückgezogen, um wenigstens einigermaßen geschützt zu sein. Es war ein richtiges, echtes Spitzbubenwetter, ganz zu einer bösen Tat geeignet. Hätte auch das Licht der Laterne ausgereicht, das Terrain um wenige Schritte weit zu erhellen, so schlug doch der Sturm einem völlig die Augen zu.
Bormann arbeitete sich bis an das Gefängnisgebäude. Er umschlich es, um zu sehen, ob er allein sei. Er bemerkte kein einziges menschliches Wesen.
Er war bereits einige Male in diesen Räumen gefangen gewesen, also kannte er sie. Er machte nicht von dem Haupteingang Gebrauch, sondern er suchte eine Hinterpforte, welche aus dem Gefängnishof in das Freie führte. Er zog den gestern von dem Hauptmann erhaltenen Hauptschlüssel heraus und probierte. Der Schlüssel paßte und öffnete die Pforte.
Er schloß sie hinter sich wieder zu und schlich leise an der Mauer entlang nach dem zweiten Eingang des eigentlichen Gebäudes. Auch hier öffnete er mittels des Schlüssels und schloß dann wieder hinter sich ab.
Er befand sich in einem nur spärlich erleuchteten Flur, von welchem links eine Tür nach den Verhörzimmern und Sälen, rechts aber eine zweite in das eigentliche Gefängnis führte. Er schloß diese letztere auf und trat auf einen Vorplatz, von welchem aus eine Treppe nach oben führte. Hier zog er seine Stiefel aus und steckte sie hinter die Treppe. Diese letztere war ihm sehr wohl bekannt. Er war über sie hinweg aus dem Gefängnis in das Verhör geführt worden.
Auf den Strümpfen stieg er lautlos empor. Der Sturm tobte übrigens draußen mit solcher Wut, daß man auch hier im Innern ein ziemlich lautes Geräusch gar nicht zu unterscheiden vermochte.
Jetzt kam er oberhalb der Treppe an eine Tür, welche er nur mit der äußersten Vorsicht öffnete. Er schien sich in der Nähe einer Gefahr zu befinden. Er trat ein, verschloß aber dieses Mal die Tür nicht, sondern klinkte sie nur ein. Ein langer, hell erleuchteter Zellengang dehnte sich vor ihm hin. Gleich über der ersten Tür war zu lesen: ‚Aufsichtszelle‘. Die anderen Türen waren mit fortlaufenden Nummern bezeichnet.
Er trat an die erstere und lauschte angestrengt. Während einer kurzen, windstillen Pause glaubte er Schnarchlaute zu vernehmen. Er machte leise, ganz leise auf und blickte durch die Spalte in den kleinen Raum.
Auf dem Lager hingestreckt war der Gefängniswärter in Schlaf gefallen. In der Hand hielt er einen Schlüsselbund. An der Wand hingen Ketten und eiserne Fesseln, daneben die Schlüssel dazu. Auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch – die Zellenliste.
Der Akrobat zog die Tür hinter sich zu und trat leise an das Lager. Ohne mit der Wimper zu zucken, zog er den Hammer hervor, holte aus und führte einen fürchterlichen Hieb gegen die Stirn des Schläfers.
Der Getroffene gab keinen Laut von sich; er streckte sich und war tot.
„Bis hierher ging's gut“, murmelte Bormann. „Hoffentlich kommt nichts drein.“
Er nahm den Schlüsselbund und die Fesselschlüssel und trat an den Tisch.
„Nummer acht, erste Etage: Baron Franz von Helfenstein, rechter Flügel“, las er. „So weiß ich es also! Vorwärts!“
Er verließ die Aufsichtszelle, schloß sie hinter sich zu, zog den Schlüssel ab und steckte ihn ein. Den Hammer hatte er auch zu sich genommen. An einem Kleiderständer hing der Rock und die Mütze des Schließers. Bormann setzte die letztere auf und zog den ersteren an. Dieser war ihm zwar zu eng und zu kurz, reichte aber hin, für einige Augenblicke zu täuschen.
Jetzt trat der Mörder an den Hauptgashahn und drehte ihn so weit zu, daß es auf dem Gang nur noch ein düsteres Licht gab. Dann ging er denselben hinab bis dahin, wo eine Tür nach dem rechten Flügel führte.
Dort horchte er. Als der Sturm einmal Atem holte, hörte der Lauscher laute, abgemessene Schritte.
„Donnerwetter! Ein Militärposten“, fluchte er. „Dachte es mir. Na, ich fürchte mich nicht!“
Er öffnete jetzt mit dem Hauptschlüssel die Tür auf. Der Posten hörte es, drehte sich um und fragte:
„Wer da?“
„Der Schließer. Bitte, kommen Sie einmal her!“
Der Soldat erblickte die blanken Knöpfe auf dem Rock und die farbige Mütze. Er hatte keinen Verdacht.
„Was gibt es?“ fragte er, näher kommend.
Bormann war nicht eingetreten. Er stand neben dem Eingang, nur spärlich von den trüben Gasflammen des ersten Zellengangs
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