65 - Der verlorene Sohn 06 - Das letzte Duell
zwar noch diese Nacht!“
„Oh, hier bei mir wird man Sie nicht suchen!“ bemerkte der unsichtbare Einsiedler.
„Warum nicht? Wir haben seit einiger Zeit Pech. Ich habe keine Lust, mich dem Glück oder dem Zufall anzuvertrauen. Wir gehen.“
„Aber wohin?“
„Das muß besprochen werden. Zunächst fort von hier.“
„Haben Sie denn die zur Flucht notwendigen Mittel?“
„Leider nein.“
„Hm! Sie haben mir die Ehe versprochen, und Ihr Vater hat mir jetzt das Jawort gegeben. Ich habe also die Verpflichtung, für Sie zu sorgen. Ich gehe mit Ihnen.“
„Wirklich? Überall hin?“
„Wohin Sie wollen!“
„Haben denn Sie Geld?“
„Soviel Sie nur brauchen!“
„Bedenken Sie, daß ich gewohnt bin, Ansprüche zu machen.“
„Ich bin reich, sehr reich.“
„Können Sie das beweisen?“
„Ja, wenn Sie es verlangen.“
„So tun Sie es!“
„Warten Sie einen Augenblick!“
Er schien sich zu entfernen. Bertram und Holm bemerkten, daß der Freiherr zu seiner Tochter trat. Beide flüsterten leise miteinander. Man sah es ihren Mienen an, daß es nichts Gutes war, was sie besprachen.
„Ich glaube, sie werden dem Einsiedler gefährlich werden“, sagte Holm leise zu Bertram.
„Sicher! In ihren Zügen ist nur Schlimmes zu lesen. Ah, sehen Sie, was er in der Hand hat?“
„Ein Messer! Er steckt es wieder ein. Donnerwetter! Sie werden den Einsiedler doch nicht gar ermorden wollen!“
„Das dürfen wir nicht geschehen lassen! Horch!“
Jetzt erklang die Stimme Winters wieder:
„Kommen Sie heraus in meine Kammer! Ich habe Kisten und Kasten geöffnet. Sie sollen sich überzeugen, daß Sie an meiner Seite wie eine Fürstin leben können.“
Theodolinde erhob sich von dem Stuhl, um dieser Aufforderung Folge zu leisten. Dabei warf sie einen triumphierenden, halb auffordernden Blick auf ihren Vater. Dieser Blick sagte ebenso deutlich wie hörbare Wörter:
„Jetzt ist der Augenblick gekommen, jetzt müssen wir handeln; also vorwärts!“
Da flüsterte Holm:
„Es geschieht etwas! Schnell hinunter! Wir legen die Leiter an das andere Fenster!“
Eine Sekunde später hatten sie den Erdboden erreicht und im nächsten Augenblick lehnte die Leiter über der nächsten Fensteröffnung. Beide stiegen so schnell empor, wie es ihnen möglich war, und blickten hinein.
Sie sahen eine alte, mit Eselsfell beschlagene Truhe, wie sie im vorigen Jahrhundert im Gebrauch waren, daneben eine geöffnete Lade und eine offene Kiste. Was sich in diesen drei Behältern befand, konnten sie nicht sehen. Sie sahen nur, daß der Einsiedler mit der Hand auf dieselben zeigte und dabei ein stolzes, übermütiges Lächeln sehen ließ. Theodolinde kam herbei und blickte in die Truhe. Sie sprach, aber man konnte von außen ihre Worte nicht verstehen.
Auch ihr Vater trat hinzu. Die Lauscher hatten jetzt alle die drei Personen deutlich vor Augen. Der Freiherr, welcher zur linken Hand des Einsiedlers stand, sagte zu diesem letzteren etwas, worauf Winter sich tief niederbeugte, um in die Lade zu langen.
In diesem Augenblick blitzte das Messer in der Hand des Tannensteiners; die Klinge fuhr dem Einsiedler in die Schulter. Der Getroffene stieß einen lauten, fürchterlichen Schrei aus.
„Herrgott! Sie morden ihn!“ rief Robert Bertram, und zwar viel, viel lauter, als sich mit seiner Lauscherrolle in Einklang bringen ließ.
„Warte, Halunke!“ antwortete Holm.
„Er holt zum zweiten Mal aus!“
„Soll ihn aber nicht treffen!“
Holm, welcher fest auf der Leiter stand, hatte gleich beim ersten Messerstoß das Gewehr von der Schulter gerissen und in Anschlag gebracht. Zugleich mit seinen Worten drückte er ab. Der Schuß krachte, und der Freiherr, welcher die Hand eben zum zweiten Stoße erhoben hatte, taumelte und stürzte dann, durch den Kopf geschossen, zu Boden.
Theodolinde stieß einen Schrei des Entsetzens aus und sank neben ihrem Vater nieder. Ihr Schrei war freilich nicht zu hören, er ging unter in einem lauten Klirren und Krachen. Holm hatte mit dem Gewehrkolben das ganze Fenster zertrümmert und samt dem alten, morschen Rahmen in die Kammer geschlagen.
„Hinein!“ gebot er. „Vielleicht ist noch Hilfe möglich!“
Er trat auf die Fensterbrüstung, zwängte sich hindurch und sprang in die Kammer. Bertram, welcher bis jetzt mit Händen und Füßen nach unten an den Leitersprossen gehangen hatte, schwang sich schnell auf die Leiter hinauf und folgte ihm augenblicklich. –
Als der Freiherr den Entschluß
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