66095: Thriller (German Edition)
in panischer Eile quer durch das Bachbett. Zwei hatten bereits das Ufer erreicht und gruben sich in den weichen braunen Schlamm ein.
Einen Augenblick lang hatte Whitney das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben. Keine Zukunft. Keine Vergangenheit. Der absolute Stillstand. Dann wich die Fassungslosigkeit jäher Angst. Blinde Höhlenkrebse sind normalerweise so faul wie Schildkröten. Zu ihren merkwürdigen Angewohnheiten gehörte es, sich im Schlamm einzugraben. Durch diesen überlebensnotwendigen Trick vermieden sie es, von den Wasserfluten des Vorfrühlings weggespült zu werden. Aber selbst dann bewegten sie sich gemächlich. Diese Krebse aber verhielten sich, als ahnten sie, dass eine Flutwelle auf sie zustürmte.
»Mein Gott, nein«, flüsterte Whitney.
»Was?«, fragte Jeannie. »Warum machen sie das?«
»Überschwemmung!«, rief Whitney, sprang über den Teich und griff nach ihrer Ausrüstung.
Whitney lag auf dem Küchenfußboden, die Hände über dem Kopf verschränkt, und stöhnte. »Nein. Ich muss nicht mehr in die Höhle gehen.« Sie zwang sich, die Augen zu öffnen, atmete tief durch und strich sich die Haare aus der Stirn. »Ich muss nicht mehr in die Höhle gehen.«
Sie setzte sich auf, atmete gleichmäßig und versuchte, sich einen blauen Himmel und einen milden Sommerwind über der Prärie vorzustellen. Sie beschwor den Duft von Sommerwiesen und das Zirpen der Grashüpfer herauf.
Endlich verblasste der grauenhafte Wachtraum, und sie nahm wieder die vertrauten Gegenstände ihrer Küche wahr. Den Kieferntisch, den Tom ihr zum fünften Hochzeitstag geschreinert hatte, das gerahmte Foto, das Tom in den Tiefen der Labyrinthhöhle zeigte und das auf der Titelseite von National Geographic gewesen war; den Schnappschuss vom Familienurlaub am Strand bei Nag’s Head; das Aquarell jenes zauberhaften Orts auf Jamaika, wo sie ihre Flitterwochen verbracht hatten.
Angesichts der Relikte ihrer Vergangenheit hatte Whitney das Gefühl, ihren Mann leibhaftig vor sich zu sehen. Dann stockte ihr der Atem, denn sie sah ihn tatsächlich. Da, auf dem Bildschirm des tonlos flimmernden Fernsehers auf der Küchentheke ging Tom mit seinem Helm in der Hand durch den Wald.
Whitney setzte sich auf, fischte die Fernbedienung aus ihrer Bademanteltasche und schaltete den Ton an. Ein weiterer Film zeigte Tom nun im Innern der Höhle, seine Stirnlarnpe leuchtete, und wenn er grinste, blitzten die weißen Zähne in seinem schmutzigen Gesicht. Der Sprecher kündigte an: »Wir berichten über das Artemis-Projekt der NASA ab morgen früh um sieben Uhr in der Sendung Today .«
Der Moderator hielt inne, griff an seinen Ohrhörer, runzelte die Stirn und schaute dann in die Kamera. »Und nun eine aktuelle Durchsage. Aus einem Hochsicherheitstrakt in Westkentucky sind vier Gefangene ausgebrochen. Bei der riskanten Flucht am helllichten Tag wurden drei Wärter getötet und …«
Whitney schaltete den Ton wieder aus. Ihr Blick fiel auf ein gerahmtes Foto, das sie mit Jeannie Yung bei einem Forschungsprojekt in den italienischen Dolomiten im Sommer vor drei Jahren zeigte. Ihre Assistentin stand mit weit ausgebreiteten Armen vor einem riesigen rosafarbenen Stalagmiten und lächelte munter in die Kamera. Whitney stand auf und sah zum Fenster hinaus in den Morgenhimmel.
»Ich weiß, ich habe es nicht verdient, nach allem, was passiert ist«, flüsterte sie, »aber pass für mich auf sie auf, Jeannie. Bitte!«
11.40 Uhr
Peabody-Nationalpark, Kentucky
Der US-Marshall von Ostkentucky stieg aus dem Helikopter, der wie eine Libelle mitten auf dem Highway 62 gelandet war. Der Nebel hatte sich verzogen, und die gleißende Sonne und das unaufhörliche blaue Blinken der Polizeidienstwagen tauchten die Szene in ein beunruhigendes metallisches Licht. Ein Abschleppwagen beförderte soeben den Begleitwagen des Gefangenentransports aus dem Wald.
Eine Sekunde lang blieb Damian Finnerty reglos stehen. Er fühlte sich merkwürdig ohnmächtig. Niedrige Spermienzahl. Bisher hatte Testosteron die beherrschende Rolle in seinem Leben gespielt. Wie zum Teufel war es so weit gekommen? Dann schüttelte er den Kopf, holte tief Luft und zwang sich zur Konzentration. Er durfte sich nicht erlauben, über die Szene mit seiner Frau im Schlafzimmer nachzugrübeln. Seine Aufgabe war es, Verbrecher hinter Schloss und Riegel zu bringen. Wenigstens auf diesem Gebiet konnte er sich doch auf seine Fähigkeiten verlassen, oder etwa nicht?
Sheriff Michael Arnet, ein
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