7 Minuten Zu Spät
nur hier zu Hause herumhänge, werde ich verrückt. Gib mir deine Flugnummer, und dann komme ich dich abholen.«
Alice duschte und zog sich an. Auf dem Küchentisch fand sie eine Notiz von Mike. Ruf mich an, wenn du wach bist. Wahrscheinlich war er in die Werkstatt gefahren und würde sofort nach Hause kommen, wenn sie ihn anrief, um sie zu beschützen. Sie wollte aber nicht, dass er sie vor ihrem Kummer bewahrte, und sie wollte auch nicht, dass er sich mit ihr von seiner eigenen Trauer ablenkte. Er sollte ruhig in seiner Werkstatt bleiben, wo er nicht lächeln, reden oder sie trösten musste. Alice wusste ganz genau, dass sie jetzt ihre Mutter brauchte. Und Lizzie kam, das war das Wichtigste.
Alice zwang sich, etwas zu essen, wegen der Babys, aber sie bekam ihre Scheibe Toast kaum herunter. Sie trank ein paar Schlucke Milch, und sofort stieg wieder Übelkeit in ihr auf.
Weil der Verkehr auf dem Brooklyn Queens Expressway kaum vorherzusagen war, beschloss sie, so früh wie möglich aufzubrechen.
Sie verließ das Haus und ging die Treppe hinunter. Die Sonne blendete sie, und Alice wünschte, sie hätte ihre Sonnenbrille mitgenommen. Kaum war sie ein paar Schritte gegangen, da sah sie auch schon den ersten gelben Zettel an einem Laternenmast. Vermisst wird… Sie riss ihn ab, zerknüllte ihn und warf ihn bei der ersten Gelegenheit in einen Abfalleimer. Auf der anderen Straßenseite lag der Kleinkinderbereich des Spielplatzes. Es wimmelte von kleinen Kindern und ihren Müttern, die neue Freundschaften schlossen und alte pflegten. Sie wusste nicht, ob sie jemals wieder in der Lage sein würde, dorthin zurückzukehren. Aber sie würde es müssen, schon wegen ihrer Kinder. Wieder traten ihr die Tränen in die Augen, und sie begann haltlos zu schluchzen. Bei jedem gelben Zettel, den sie abriss, dachte sie an Ivy, und der Text verwandelte sich vor ihren Augen in Finde mein Baby, bitte. Finde Ivy mach dich sofort auf die Suche nach ihr, sie ist da draußen ganz allein.
Wo war Ivy? Wo mochte sie sein? Sie brauchte eine Mutter, und Alice konnte das für sie sein. Ohne Mutter konnte Ivy nicht überleben.
Alice war froh darüber, dass sie niemandem begegnete, den sie kannte, damit sie nichts zu erklären brauchte. Nur Fremde sahen ihre Tränen, liefen aber gleichgültig an ihr vorbei.
Schließlich gelangte sie zu dem billigen Parkplatz, auf dem sie das Familienauto abstellten. Seinen Pick-up parkte Mike auf der Straße, weil er ihn ständig brauchte. Die Gegend war fast völlig menschenleer, nur ein grauhaariger Mann drehte sich um und ging in die andere Richtung, als Alice sich näherte. Er kam ihr irgendwie bekannt vor, aber sie wusste nicht genau, woher. Sie öffnete das Vorhängeschloss und schob das massive Eisentor auf. Es war auf seltsame Weise beruhigend, wie der Kies unter ihren Füßen knirschte. An ihrem alten grünen Kombi öffnete sie erst einmal sämtliche Fenster, bevor sie sich hinters Steuer setzte. Die Klimaanlage war schon seit zwei Jahren kaputt, aber der Wagen war Baujahr ’88, da lohnte sich eine Reparatur nicht mehr. Als sie sich auf den Vinylsitz setzte, lief ihr der Schweiß die Oberschenkel hinunter.
Es war eine Erleichterung, loszufahren und den Fahrtwind zu spüren. An der Bond Street stieg ihr der Geruch des Kanals in die Nase, und sie trat aufs Gaspedal, weil sie den Gestank nicht ertragen konnte. Und sie wollte so schnell wie möglich aus Brooklyn heraus, die gelben Zettel und die Erinnerung an Lauren hinter sich lassen. Obwohl sie in dem dichten Verkehr eigentlich langsamer hätte werden müssen, fuhr sie unwillkürlich schneller, um endlich auf den Highway und zum Flughafen zu gelangen. Eigentlich könnte sie sich dort ein Ticket kaufen und irgendwohin fliegen. Maggie konnte sie im Laden vertreten, und Mike und die Kinder konnten ja nachkommen. Sie könnte nach Frankreich, Italien, Griechenland oder Mexiko reisen – und alles vergessen. Sie stellte sich das klare Wasser, die breiten, endlosen Sandstrände, den weiten Horizont vor und war so in ihre Träumerei versunken, dass sie den Stau vor sich zu spät bemerkte. Instinktiv riss sie das Steuer herum und bog rechts ab. Die Sonne blendete sie, und dann krachte und knirschte Metall auf Metall, und Alice prallte gegen das Lenkrad. Ihr Bauch zog sich zusammen und wurde steinhart. Ihre Babys!
Panik stieg in ihr auf. Sie versuchte, ihren Wagen frei zu bekommen, aber nichts funktionierte. Offensichtlich hatte sie einen Bus gerammt, und jetzt
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