7 Minuten Zu Spät
Versenkt.
»Das Glas von Laurens Armbanduhr war zerschmettert, was vermutlich nach dem Schuss passiert ist. Damit wissen wir zweierlei: dass sie hart aufgeprallt ist und um welche Uhrzeit es geschehen ist. Ihre Uhr ist exakt um elf Uhr dreiundfünfzig stehen geblieben. Das ist die offizielle Todeszeit.«
Acht Minuten nachdem der Künstler ihr zugelächelt hatte. Sieben Minuten bevor sie im Pilates-Kurs hätte ankommen müssen. All das ging Alice durch den Kopf, und ein Schatten legte sich über ihre Seele.
»Den Tatort können wir noch nicht mit Bestimmtheit festlegen«, sagte Giometti. »Irgendwo müsste sehr viel Blut sein, aber die Stelle haben wir noch nicht gefunden, und wenn sie draußen liegt, arbeitet die Zeit gegen uns. Die Zeit und das Wetter. Wenn wir Glück haben, befindet sich der Tatort drinnen.«
Glück. Alice krampfte sich der Magen zusammen, und sie schluckte.
»Der Gerichtsmediziner kann mit Bestimmtheit sagen, dass es sich um Mord handelt. Das Baby gilt nun offiziell als vermisst. Weil in dieser Gegend schon einmal eine schwangere Frau verschwunden ist, wird in Erwägung gezogen, das FBI einzuschalten, zumal die Möglichkeit besteht, dass der Säugling über die Landesgrenze gebracht worden ist. Im Grunde handelt es sich hier um drei miteinander zusammenhängende Fälle. Die schwangere Frau, die vor zwei Jahren am Kanal verschwunden ist. Der Mord an Lauren. Das verschwundene Baby. Der Kanal ist bereits den ganzen Tag durchsucht worden, und die Suche wird so lange fortgesetzt, bis jeder Quadratzentimeter durchforstet wurde. Bis jetzt allerdings wurde nichts gefunden.«
Frannie nahm den Arm von Alices Schulter. Sie blickte Tim eindringlich an und sagte: »Jemand hat große Mühen auf sich genommen, um Ihrer Frau das Baby wegzunehmen. Es besteht eine gute Chance, dass es noch am Leben ist.«
Es. Plötzlich verstand Alice, wie nützlich die Verallgemeinerung war. Die Medien, die mit der Polizei zusammenarbeiteten, hielten das Geschlecht des Kindes absichtlich zurück, um Laurens Mörder in Sicherheit zu wiegen.
ZWEITER TEIL
KAPITEL 10
A m nächsten Morgen blieb Alice im Bett und lauschte den Geräuschen ihrer Familie oben in der Küche. Ein Stuhl kratzte über den Fußboden. Schritte. Geschirr klapperte. Die vertrauten Stimmen. Mike machte die Kinder für die Schule fertig. Er gönnte ihr eine Atempause, und sie hatte ihn nicht einmal darum bitten müssen.
Ein heller Sonnenstrahl drang durch einen Spalt in den Vorhängen, aber Alice sehnte sich nach Dunkelheit und Ruhe. Die ganze Nacht über hatte sie wach gelegen, wieder und wieder über Laurens brutalen Tod nachgedacht. Sie hatte das Messer und das blutende Fleisch vor sich gesehen. Hatte vor sich gesehen, wie Ivy sich ein letztes Mal im Leib der Mutter zusammengerollt hatte und dann dem plötzlichen Schock ausgesetzt war. Hatte überhaupt jemand ihren ersten Schrei gehört? Wie sollte sie ohne Liebe überleben?
Immer wieder versuchte Alice sich vorzustellen, wie Lauren wohl reagiert haben mochte, und sie fragte sich selbst: Wenn die Angst wie eine riesige Welle auf mich zurollen würde, was würde ich tun? Hineintauchen oder mich umdrehen und wegrennen? Würde ich Angst vor der Angst haben oder mich ihr ausliefern?
Sie lag auf der Seite und streichelte ihren festen Bauch.
Die Zwillinge waren ruhig, sie schliefen wohl, und sie wollte sie nicht aufwecken.
Gegen halb neun verließen Mike, Nell und Peter das Haus. Jetzt war alles still. Alice schloss die Augen und versuchte zu schlafen, aber sie fand keinen Weg aus ihrem Schmerz. Sie vermisste Lauren so sehr, dass ihr alles wehtat; es war der schlimmste und fremdeste Schmerz, den sie je in ihrem Leben empfunden hatte.
Als das Telefon klingelte, versuchte Alice zunächst, es zu ignorieren, aber als es nicht aufhörte, nahm sie schließlich ab.
»Es ist alles geregelt«, sagte Lizzie.
»Mom?«
»Ich bin jetzt am Flughafen.« Sie sprach in dem kühlen, sachlichen Tonfall, der Alice durch ihre Kindheit begleitet hatte.
»Um zehn nach eins lande ich am LaGuardia.«
»Du kommst heute her?«
»Schatz, ich habe extra vier Termine gecancelt, aber wen kümmert das schon? Mike hat mich angerufen. Wichtiges zuerst, und du bist das Wichtigste. Dicker Kuss. Du brauchst mich nicht abzuholen, ich nehme ein Taxi.«
»Ach was, Mom, ich hole dich doch immer ab.«
»Aber diesmal nicht. Ich…«
Alice setzte sich auf und erwiderte mit Nachdruck: »Wir machen heute den Laden nicht auf, und wenn ich
Weitere Kostenlose Bücher