7 Minuten Zu Spät
schlaff. Was Alice aber am meisten überraschte, war seine Brille. Sie war trendy auf eine Art, die überhaupt nicht zu ihm passte, minimalistische rechteckige Gläser in einer lila Fassung. Offenbar hatte er sich am Morgen nicht rasiert, aber das war verständlich, schließlich zog er heute um. Alice beschloss, sich zu zwingen, den Mann zu akzeptieren, auch wenn sie es vielleicht nur tat, um zu überleben.
Sie streckte die Hand aus: »Ich bin Alice Halpern.«
Er schüttelte ihr die Hand, ohne sich vorher den Schweiß abzuwischen, aber sie lächelte tapfer weiter.
»Julius Pollack«, sagte er mit öliger Stimme, die sie seltsamerweise an gelben Lack erinnerte.
Auffordernd blickte er sie an.
»Mr. Pollack«, begann sie aufgesetzt selbstbewusst, weil sie seinem eindringlichen Blick etwas entgegensetzen musste, »ich weiß nicht, wie viel Ihnen Joey über unsere Lage berichtet hat. Wir hatten ihn gebeten, es Ihnen…«
»Er hat mir gesagt, Sie seien noch hier.« Julius Pollack lächelte steif, ein Plastiklächeln, das zu seinem gelackten Tonfall passte. Ihr wurde ganz mulmig zumute. »Und jetzt bin ich hier. Wir sind zusammen hier.«
Wieder starrte er sie an und wartete.
»Es kostet Zeit, ein Haus zu kaufen«, sagte sie. Dieses Lächeln. Sie kam sich ganz dumm vor.
»Wir haben Kinder«, erklärte sie. »Wir brauchen Platz. Und wie Sie sicher wissen, ist der Markt zurzeit…«
»Ich will keine Erklärung.« Sein öliger Tonfall war unerträglich süßlich geworden. »Nur die schriftliche Zusage, dass Sie vor Ende des Monats ausziehen.«
Blutsauger, hörte Alice Lauren sagen. Ich beginne diese Blutsauger zu hassen für das, was sie uns zumuten. Alice verabscheute diesen Mann, Julius Pollack, bereits aus ganzem Herzen, und dabei kannte sie ihn kaum. Dieser Mann, der sie in einem Monat aus dem Haus haben wollte; dieser Mann, dem sie ihre Lage erklären musste; den sie höflich bitten – nein: anbetteln – musste, damit er ihnen mehr Zeit ließ. Es war zu viel auf einmal – die Haussuche und der Verlust der geliebten Freundin. Lauren hätte seine Arroganz nicht toleriert. Sie hätte ihm schon die Meinung gesagt. Aber Alice war nicht Lauren. Sie stand nur sprachlos in der Eingangshalle, unfähig zu reagieren, während Julius Pollack sie einfach stehen ließ und durch die Eingangstür trat. Sie hörte, wie er den Möbelpackern zurief: »Bitte, seien Sie vorsichtig mit meinen Sachen!«
Sie trug die Tüten in ihre Wohnung. Auf dem Küchentisch lag eine Nachricht von Mike. Er war mit den Kindern ins Kino gegangen. Ohne sie war die Wohnung leer. Sie räumte die Lebensmittel weg und setzte sich in ihre stille Küche, die sich gar nicht mehr wie ihre Küche anfühlte. Nach fünfzehn Jahren kam ihr die Wohnung auf einmal nicht mehr wie ihr Zuhause vor. Es war Julius Pollacks Haus, das hatte er mit seiner Kündigung vollkommen klar gemacht.
Sie blickte auf den Notizblock, der auf dem Tisch lag, und ihr fiel ein, dass ihre Mutter ihr ja einen Termin bei der Maklerin gemacht hatte. Sie schlug die Seite auf, und es versetzte ihr einen Stich, als sie die runde Schrift ihrer Mutter sah. Montag, 10.00 Uhr, Pam Short, Garden Hill Realty, Treffen in ihrem Büro, Besichtigung von 3 Häusern. Pam Short war die Maklerin, von der Sylvie behauptete dass sie für jeden ein Haus finden würde. Alice hatte eigentlich nicht vorgehabt, den Termin einzuhalten – in ihrer wackeligen Gefühlslage hatte sie sich nicht vorstellen können, Häuser anzuschauen –, aber mittlerweile war ihr klar, dass sie gar keine andere Wahl hatte.
Sie konnte gegen den neuen Eigentümer nichts ausrichten. Ihr Vertrag war nicht mehr gültig, und es war sein Haus. Also griff sie zum Telefon und bestätigte den Termin, indem sie eine Nachricht auf Pam Shorts Anrufbeantworter hinterließ. So konnte sie es sich wenigstens nicht mehr anders überlegen.
KAPITEL 17
G arden Hill Realty lag an der Court Street neben der monolithischen Old St. Paul’s Church, wo man samstags Bingo spielen, sonntags beten, unter der Woche abends zu Treffen der Anonymen Alkoholiker gehen und an Donnerstagnachmittagen im Sommer Bio-Produkte kaufen konnte. Auf einem Kupferstich der Brooklyn Bridge stand Ihr Weg zu einem Brownstone in Brooklyn. Maklerlizenz: Judith Gersten. Die abgebildeten Häuser kosteten zwei Millionen Dollar oder mehr. Sie konnten unmöglich etwas in ihrer Preisklasse haben, dachte Alice, aber dieses Mal würde sie sich vom Markt nicht entmutigen lassen.
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