7 Minuten Zu Spät
Judy war betrunken. Aber Alice wollte Peters Feuerwehrauto wiederhaben, also folgte sie ihr nach drinnen. Das Wohnzimmer war gemütlichchaotisch, im französischen Landhausstil eingerichtet und ein bisschen abgewohnt.
»Wenn Sie mir das Feuerwehrauto geben, bin ich gleich wieder weg.«
Judy gab einen Laut von sich, als wolle sie wieder anfangen zu weinen.
Es war anscheinend noch schlimmer, als Alice befürchtet hatte. »Vielleicht sollte ich später wiederkommen.«
»Warten Sie bitte, ja?« Judys Stimme klang jämmerlich, Mitleid erregend.
Die Morgenzeitung lag aufgeschlagen auf einem Diwan vor einem großen Fenster. Daneben auf dem Boden stand ein Becher mit Judys Kaffee, einer öligen, bernsteinfarbenen Flüssigkeit, die jeder sofort als Whiskey erkannt hätte.
Judy durchwühlte ihre Tasche, als Alices Blick auf ein Foto in der Zeitung fiel, das ihr einen Schlag versetzte. Es war ein Foto von Julius, eine seltsame Aufnahme, weil er lächelte. Sie hatte ihn noch nie lächeln gesehen. Er hatte den Arm um einen anderen Mann gelegt. Die Schlagzeile über dem Foto konnte Alice nicht lesen, da in diesem Augenblick schon wieder Judy neben ihr stand.
»Danke.« Alice nahm das kleine rote Auto entgegen.
Aus der Nähe sah Judy nicht nur betrunken, sondern auch gepeinigt aus, und Alice fragte sich, ob wohl etwas anderes als der Whiskey an ihrem Zustand schuld war. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Oh, mir geht es wunderbar«, erwiderte Judy dramatisch. Sie trat zu einer Couch, die an einer Ziegelwand stand, und sank in die weichen Polster. Alice blickte auf die zusammengesunkene Gestalt. Die arme Frau. Hinter einer besonders beherrschten Fassade verbarg sich wie so oft der größte Aufruhr.
»Es ist etwas passiert«, schluchzte Judy und schlug sich die Hände vors Gesicht, »und jetzt ist alles vorbei.«
»Das tut mir Leid«, flüsterte Alice. Und das stimmte auch, obwohl sie nicht wusste, wovon Judy redete. Sie stand da und wartete darauf, dass das Schluchzen nachließ, damit sie sich verabschieden konnte.
Als sie sich in dem hübschen, unordentlichen Zimmer umblickte, entdeckte sie überall ähnliche Handarbeiten wie auf Judys Schreibtisch im Büro. Jede weiche Fläche im Zimmer, abgesehen vom Teppich und dem silbrigen Jacquard-Bezug des Sofas, war von Judy bearbeitet worden. Die Sitzflächen von zwei antiken Sesseln waren mit Petit-Point-Stickerei bezogen. Zwischen den Sesseln stand ein kleiner Tisch mit einer großen, gerahmten Fotografie von Judy und einem Mann, der Alice irgendwie bekannt vorkam. Sie standen Arm in Arm da, wie ein altes Ehepaar, und lächelten breit in die Kamera. Aber nichts sonst im Zimmer gab einen Hinweis darauf, dass Judy verheiratet war. Es war eindeutig das Zimmer einer Frau. Auf der Couch, auf der Judy saß, lagen zahlreiche gestickte Kissen, alle bis auf eins mit symmetrisch angeordneten winzigen Blumen, was wie eine Art Gartenfeuerwerk wirkte. Die Ausnahme war ein Kissen, auf das nur eine einzige Blume gestickt war, in der Art eines Georgia-O’Keeffe-Gemäldes.
Alice musste das Kissen unwillkürlich angestarrt haben, denn Judy hörte abrupt auf zu schluchzen. »Es sollte eine Pfingstrose werden«, sagte sie, »aber wahrscheinlich habe ich auch das, wie alles andere, nicht richtig hingekriegt.«
Erst jetzt erkannte Alice, dass es tatsächlich eine Pfingstrose war. »Es ist wunderschön«, sagte sie.
Judy ergriff das Kissen und strich mit zitternden Fingern über die Oberfläche. Dabei blickte sie Alice an. »Es war die Idee dieses französischen Mädchens.« Ihre Stimme war rau vom Weinen. »Sylvie. Sie hat mir von der Frau erzählt, die Pfingstrosen geliebt hat, die, die sie im Kanal gefunden haben.
Eine Frau, die wie Abfall weggeworfen wurde.« Wieder begann sie zu weinen. »Hier.« Sie warf Alice das Kissen zu. »Sylvie hat mir auch erzählt, dass die Frau Ihre Freundin war. Ihnen bedeutet es sicher mehr als mir.«
Alice fing das Kissen auf. »Das kann ich nicht annehmen.«
»Mir bedeutet es nichts.« Judy holte tief Luft. Flehend blickte sie Alice aus ihren verquollenen Augen an. »Ich mache sie nur, weil ich etwas zu tun haben will. Sylvie bringt sie in den Frauenladen. Ich verkaufe sie, weil sie mir nichts bedeuten. Ich brauche das Geld nicht. Nehmen Sie es, bitte.«
Judy stand auf und trat zum Diwan. Dort ergriff sie ihren Becher und leerte ihn in einem Zug. Die Zeitung beachtete sie gar nicht.
»Danke«, sagte Alice. »Ich weiß schon genau, wo ich es hintun
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