7 Minuten Zu Spät
Durchsuchungsbefehl für Pollacks Wohnung.
Aber jetzt war sie hier. Und das Baby schrie genau über ihren Köpfen.
Alice stellte ihre Reisetaschen ab und wandte sich zur Treppe.
»Halt!«, zischte Dana. »Sie verderben alles, wenn Sie jetzt dort hinaufgehen. Überstürzen Sie nichts.«
Aber Alice war bereits auf halbem Weg die Treppe hinaufgeeilt, und Dana blieb nichts anderes übrig, als ihr hinterherzulaufen. »Nein, Alice! Lassen Sie uns…«
Keuchend stand Alice vor Pollacks Wohnungstür und hämmerte mit den Fäusten dagegen. Die Tür öffnete sich und Julius stand vor den Frauen, in seinem weißen, ärmellosen Unterhemd. Seine Haare waren völlig zerzaust, und er sah elend aus. Die rechteckige lila Brille hing ihm halb auf der Nase.
Böse musterte er sie. »Was tun Sie in meinem Haus?«
Das Babygeschrei hinter ihm war jetzt lauter, aber auch irgendwie irrealer. Alice hörte eine Frauenstimme ein Schlaflied summen. Das Baby beruhigte sich und das Geschrei ließ nach.
Dana stand neben Alice, die Pistole in der Hand, und zielte auf Julius Pollacks schäbige Küche. Auf einem weißen Kunststofftisch stapelten sich Post und Zeitungen. Überall standen Kisten. Hinter dem Tisch stand neben einer alten, tiefen Porzellanspüle eine Schneiderpuppe mit üppigen Maßen. Sie war in viele verschiedene, nicht zueinander passende Frauenkleider gekleidet, und davor standen die silbernen Schuhe, die Alice in jener Nacht, als sie das Baby zum ersten Mal hatte schreien hören, an Julius gesehen hatte.
Auf einer freien Stelle auf dem Tisch stand ein Teller mit einem angebissenen Sandwich. Julius war offensichtlich gerade beim Essen gewesen, als sie an die Tür geklopft hatte. Auf einer Theke gegenüber dem Tisch stand ein Fernseher. Julius hatte beim Essen ferngesehen. Über den Bildschirm flimmerten Szenen eines Home-Videos. Das winzige, rosa Gesicht eines Babys in den Armen einer Frau, die nicht auf die Kamera achtete. Eine Nahaufnahme ihrer Fingerspitze, die das Gesichtchen des Babys streichelte, als es sich beruhigte. Dann Julius’ Stimme, entspannt und zufrieden, die sagte: »Sie schläft schon. Lass sie einfach in Ruhe.«
Alice erkannte das Babygeschrei, das zu einem leisen Wimmern wurde. Sie hatte diese Laute Ivy zugeschrieben, aber jetzt merkte sie, dass es genau die Töne waren, mit denen Säuglinge sich selbst in den Schlaf weinten. Sie hatte etwas anderes darin hören wollen.
Es war nicht Ivy. Es war ein anderes Baby. Möglicherweise sogar Pollacks eigenes Kind, nach dem er sich in seiner einsamen Wohnung sehnte.
»Was zum Teufel«, sagte Pollack. Sein Tonfall war leise und beherrscht.
»Entschuldigen Sie, bitte«, erklärte Dana verlegen. »Alice, entschuldigen Sie sich bitte bei dem Herrn.«
»Es tut mir Leid«, sagte Alice.
»Nein, das stimmt nicht«, erklärte Julius. Er hatte Mayonnaise auf der Oberlippe. »Aber es wird Ihnen noch Leid tun.«
KAPITEL 33
R asch gingen Dana und Alice die President Street hinauf. Der Himmel hatte sich bewölkt. Es sah nach einem Gewitter aus.
»Was haben Sie sich bloß dabei gedacht?« Danas Ton war streng; sie gab noch nicht einmal mehr vor, Alices Freundin zu sein.
»Ich habe gedacht, dass dort oben ein Baby sei, das meine Hilfe braucht.«
»Und wenn dort wirklich eines gewesen wäre? Warum hätte es gerade Ihre Hilfe brauchen sollen?«
»Weil ich es gehört habe«, erwiderte Alice, »deshalb wollte ich ihm auch helfen.«
»Sie hätten die Ermittlungen ernsthaft gefährden können. Ist Ihnen das eigentlich bewusst?«
Alice nahm ihre schwere Tasche in die andere Hand. »Ich konnte nicht anders handeln.«
»Warum nicht? Ich habe Ihnen doch ausdrücklich verboten, nach oben zu gehen.«
»Ich bin eine Mutter, darum.«
Sie bogen auf die Smith Street ein, und der Spielplatz kam in Sicht. Sie konnte Nell auf der Rutsche erkennen. Peter wurde auf der Schaukel von Sylvie angeschubst. Sie wünschte, sie könnte in den Park laufen, ihre Kinder küssen und mit Sylvie über irgendwelche Belanglosigkeiten sprechen. Aber sie musste diese Sache zu Ende bringen; sie musste ihr Verhalten Dana begreiflich machen. Und sie musste sich selbst klar machen, dass das Babygeschrei, das sie verfolgt hatte, nicht Ivy gewesen war, sondern eine liebe Erinnerung des Mannes, den sie verabscheute. Eines Mannes, den sie für unfähig gehalten hatte, menschliche Wärme zu empfinden, der aber offenbar eine Vergangenheit hatte, in der es Liebe und Verlust gegeben hatte. Alice hatte auf einmal
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