71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil
auf mich gar keinen Eindruck. Dann aber hat sie mir geradezu imponiert. Diese Augen, deren Blick man unmöglich zu widerstehen vermag. Diese Sicherheit des Ausdrucks und der Haltung. Diese Eleganz der Bewegungen. Sie hat mich ja geradezu ins Examen genommen!“
„Ja, ich glaube, daß wir uns ihrer nicht zu schämen brauchen.“
„Welche Erscheinung, wenn sie erst Salontoilette angelegt hat. Die Herren werden sofort für sie schwärmen.“
„Sie aber hat mir gar nicht das Wesen, als ob sie sich gern anbeten lasse. Ich habe sie bereits jetzt herzlich lieb und wünsche sehr, daß wir alle gegenseitig voneinander befriedigt werden.“ –
Unterdessen hatte sich der einstige Gamswilderer bei dem Bankier melden lassen. Dieser saß, als der Sänger bei ihm eintrat, eine Zigarre rauchend am Fenster und las in der Zeitung. Anton grüßte und verbeugte sich. Der Bankier las weiter, ohne ihn zu beachten. Erst als Anton sich ärgerlich räusperte, legte er die Zeitung beiseite, stand auf, schob den Klemmer fest auf die Nase, betrachtete Anton vom Kopfe bis zu den Füßen herab und fragte:
„Signor Criquolini?“
„Wie Sie auf meiner Karte ersehen!“
„Sänger?“
„Ja.“
„Bin Kenner, Autorität, Kunstgröße. Was singen Sie?“
Er nahm die Haltung, die Miene und den Ton eines Mannes an, der im nächsten Augenblick über Leben und Tod zu entscheiden hat.
„Alles!“ antwortete Anton, welcher auf so eine dumme Frage allerdings keine gescheiterte Antwort geben konnte.
„Schön! Ist mir lieb. Habe heut Soiree. Wollen Sie da singen?“
„Wer ist geladen?“
„Grafen, Barone, Freiherren und so weiter.“
„Welche Künstler sind geladen?“
„Die bedeutendsten. Hoffe sogar, daß die Ubertinka kommen wird.“
„Die Ubertinka! Ist die denn in Wien?“
„Ja. Meine Frau ist soeben zu ihr, um sie einzuladen.“
„Dann sage ich unbedingt zu. Die Ubertinka muß ich hören.“
„Kennen Sie sie?“
„Par renommée. Sie ist ein Phänomen, natürlich eine Polin, wie der Name erraten läßt. Man sagt von ihr, sie solle die Vorzüge der Henriette Sonntag, Schröder-Devrient, Nielson und Patti in sich vereinigen. Was soll ich singen?“
„Was Ihnen beliebt. Für einen tüchtigen Begleiter werde ich sorgen. Am liebsten hört man natürlich Liebeslieder.“
„Diesem Geschmack werde ich Rechnung tragen.“
„Gut, und Ihre Rechnung zahle ich dann sofort.“
Der Sänger blickte den Bankier erstaunt an. Dieser sah das und fragte:
„Was gucken Sie? Richten Sie sich so ein, daß Sie Punkt acht Uhr hier sind – Frack, Weste, Schlips und Handschuhe weiß – Lackstiefeletten. Bis dahin adieu, empfehle mich!“
Er drehte sich um und verließ das Zimmer. Anton blickte ganz erstaunt nach der Tür, hinter welcher der Mann verschwunden war. Was sollte er von ihm denken? Sollte er lachen oder sich ärgern? Sollte er auf heut abend verzichten oder doch kommen?
„Pah!“ meinte er zu sich. „Ich komme doch. Der Kerl ist ein Parvenu und weiß sich nicht zu benehmen. Jedenfalls aber ist die Tafel fein – exquisite Weine und vor allen Dingen die Ubertinka. Sie ist ein Rätsel für alle; ich werde es lösen. Ob sie wohl schön ist? Jedenfalls nicht so schön wie die Tänzerin. Pah, werden sehen!“
Er ging, um sofort den Baron aufzusuchen und ihm mitzuteilen, daß die berühmte Sängerin in Wien sei und heut abend mit ihm singen werde.
Die beiden speisten nach ungarischer Karte bei Tökés in der Habsburgergasse und beschlossen sodann, zur besseren Verdauung einen Spaziergang zu machen. Sie wendeten sich nach Norden, dem Augarten zu, ahnungslos, wer und was ihnen dort begegnen werde.
ACHTES KAPITEL
Ein trauriges Wiedersehen
Martha, das Stubenmädchen, hatte ihren Auftrag besorgt und stellte sich, als die Gepäckträger die Effekten Lenis gebracht hatten, dieser beim Auspacken zur Verfügung.
Was tut ein weibliches Wesen wohl lieber, als aus- und einpacken. Diese Arbeit regt sowohl die Phantasie als auch die Sprachwerkzeuge trefflich an. Darum war es kein Wunder, daß Leni und Martha sich während dieser Beschäftigung so viel zu sagen, zu fragen und mitzuteilen hatten, daß sie bald ein lebhaftes Interesse füreinander empfanden. Jede hatte sich im stillen gesagt, daß die andere ein heimliches Herzeleid, vielleicht eine unglückliche Liebe haben müsse. Das erweckt die Teilnahme eines jeden Frauengemütes.
Als eine Pause eingetreten war, benutzte Leni dieselbe zu der Bemerkung:
„Martha, ich höre,
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