760 Minuten Angst
Stella zu Ende gelesen hatte. Sie konnte es an ihrem verwirrten Gesichtsausdruck ablesen. »Ich nämlich nicht. Deswegen habe ich dich auch gleich angerufen.«
»Du musst jetzt wirklich gehen, Katie.«
Mehr hatte Stella nicht zu sagen. Nein, mehr konnte sie nicht sagen. Ihre Stimme versagte ihr erneut.
»Nein, Stella, ich lasse dich ganz bestimmt nicht allein. Ich merk doch, dass hier etwas nicht stimmt und …«
Ihre letzten Worte drangen nicht mehr zu Stella durch. Sie wurden von einem gewaltigen Knall verschlungen.
Dann war Stille.
Er konnte es einfach nicht fassen.
Es war unmöglich und doch bittere Realität.
Nachdem Ben sich für eine Frau entschieden hatte, war er den Treppenstufen hinab zur Haustür gefolgt und stand nun abermals an der Stelle, wo das Grauen für ihn Substanz angenommen hatte. Doch diesmal war alles anders. Nämlich vollkommen normal.
Das … das ist nicht möglich. Ich meine … ich … ich bin doch nicht verrückt … oder so. Und doch …
Und doch war alles so, wie es sein sollte. Kein warmes, rotes Blut mehr, das sich tröpfchenweise oder in Lachen über den Gehweg ausbreitete. Nichts war mehr zu sehen, überhaupt nichts, als wäre alles allein seiner kranken Phantasie entsprungen. Doch das war es nicht. Da war sich Ben sicher!
Ich werde nicht verrückt und ich bin es auch nicht! Der Weg war voller Blut gewesen … genauso wie das Denkmal.
Genau, das Denkmal!
Mit hastigen Schritten bog Ben um die Ecke und erspähte zum zweiten Mal an diesem Tag das Denkmal für die Offensive Zukunft Bayern , doch diesmal deutete keine Spur auf »C« hin. Der blutige Hinweis war verschwunden. Zurück blieb allein das Andenken durch Ministerpräsident Edmund Stoiber. Mehr nicht.
Un … fass … bar.
Speichel bildete sich in Bens Mund und drohte ihn zu ertränken. Viel zu viel der körperlichen Flüssigkeit schluckte er seinen Rachen hinunter und versuchte dadurch, wieder Herr der Situation zu werden. Er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Es stand viel zu viel auf dem Spiel.
Spiel … ja, Spiel. Das ist das passende Wort für diesen Irrsinn. Eine Schnitzeljagd, dass ich nicht lache. Ein Höllentrip ist das! Aber ich lass mich nicht verarschen! Für das muss es eine Erklärung geben.
Und so war es auch, zumindest gaukelte sich Ben das vor. Er war zu dem Entschluss gekommen, dass es einfach weggeputzt wurde. Es musste genau in der Zeitspanne passiert sein, als er zurück in seiner Wohnung war. Ganz einfach, ganz logisch. Kein Hokus Pokus und keine Wahnvorstellung seinerseits. Einfach nur Spülmittel und Wasser.
Wie kann ich nur so dumm sein und an mir selbst zweifeln? Ich weiß doch immer noch am besten, was ich gesehen habe und was nicht … oder? Wie kann ich mich nur so verarschen lassen?!
Das war das Zauberwort, welches ihn zurück zum Ausgangspunkt beförderte. Die Gesamtsituation rund um das verschwundene Blut hatte Ben so aus dem Konzept gebracht, dass er seine erste Aufgabe völlig aus den Augen verloren hatte. Ein fataler Fehler?
Ben wusste es nicht. Ändern konnte er es sowieso nicht mehr und hatte »C« ihm überhaupt ein Zeitlimit gesetzt? Er konnte sich nicht erinnern.
Drittens … euch steht frei, wie ihr diese Orte erreicht, doch es muss so schnell wie möglich geschehen. Je länger ihr zögert, desto unangenehmer wird es für eure »Siegprämie«.
Ihm war, als hörte er die Videobotschaft ein zweites Mal. »Cs« Stimme war so deutlich in seinem Kopf, als stünde er direkt neben ihm. Ben war fasziniert, wie detailgenau er sich an jedes einzelne Wort der Nachricht erinnerte. Erst dann kam die Angst.
Hab ich bereits gegen die Regeln verstoßen? Hab ich schon verloren? Ist meiner Mama längst etwas geschehen? Habe ich versagt?
Er schüttelte heftig den Kopf. Er wollte die dunklen Gedanken herausschleudern. Er durfte sich nicht länger ablenken lassen. Er hatte ein Ziel vor Augen und das galt es zu erreichen.
Auf geht’s, Benni. Auf geht’s!
Und so ignorierte er sämtliche weitere Gedanken und machte sich erneut auf den Weg. Nicht einmal fünf Minuten später stand er vor der weißen Tür und machte sich bereit zu klingeln. Doch seine Hand gehorchte ihm nicht. Seine Finger zitterten unkontrolliert.
Doch warum? Sein Auftrag war mehr als lächerlich, gar angenehm und wunderschön … und doch …
Ich meine, ich muss nur eine Frau dazu bringen mit mir … mit mir … oder weiß »C« etwa dass … dass ich …
Nein!
Nein, das ist unmöglich. Niemand weiß das!
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