760 Minuten Angst
Schandtat zum ersten Mal betrachten, richtete Rick abermals den Blick auf seinen geliebten Golden Retriever. Er sah das abgetrennte Bein, aus dessen Stumpf kaum Blut geflossen war. Der Einschnitt der Axt ins Holz war ebenfalls deutlich zu sehen.
Dann wanderten seine Augen weiter und sahen Rockos Kopf, wie er abgetrennt neben seinem Körper lag. Dazwischen, fein säuberlich in den Boden gerammt, die blutige Axt. Alles lief noch einmal vor Ricks geistigem Auge ab. Wie ein wahrgewordener Horrorfilm.
Er sah sich, wie er die Axt hoch über seinen Kopf hob und dann mit geschlossenen Augen zuschlug. Doch diesmal sah Rick alles . Diesmal konnte er seinen Blick nicht abwenden. Diesmal musste er sich der grausamen Wahrheit stellen.
Und so verfolgte er, wie die blutgetränkte Schneide der Axt sich durch den Hals seines Hundes kämpfte. Wie sie die Haut aufschnitt, den Knochen der Wirbelsäule brach, nur um am Ende den letzten Rest Muskeln und Haut zu durchtrennen, bis sie im Holz zum Stillstand kam.
Ja … diesmal musste Rick alles mitansehen. Diesmal gab es keine schützenden Lider. Diesmal musste er begreifen, um daran zu zerbrechen.
Rick schrie auf!
Es war kein Schrei aus seinem Herzen, nein, er kam viel tiefer, direkt aus seiner Seele. »C« hätte alles mit ihm anstellen dürfen, seinen Körper noch so sehr malträtieren, doch das, was er ihm nun angetan hatte, war zu viel gewesen. Einfach zu viel.
Seine Seele war dafür nicht geschaffen. Er war kein guter Mensch, das wusste niemand besser als Rick selbst, aber das lag eben daran, dass er mit Menschen nichts anfangen konnte, Kinder mal ausgenommen. Doch Tiere, vor allem seine beiden Lieblinge, waren alles für ihn. Sie waren sein Leben und nun war die Hälfte davon vergangen … durch seine eigenen Hände.
Er schrie unaufhörlich weiter.
Was hätte er tun sollen?
Es schmerzte. Es schmerzte tief in seiner Brust, als würde sich sein Herz regelrecht aus seiner Brust herausreißen wollen. Es setzte immer wieder aus, er bekam kaum noch Luft und doch hatte er genug Kraft für Leidensschreie.
Mehr war ihm nicht geblieben.
Bis auf Klara.
Ja … Klara … irgendwie hatte Rick sie vollkommen vergessen. Aber nicht nur seine Katze war aus seinen Gedanken entschwunden, auch Karo hatte er vergessen. Wie konnte er nur so dumm sein?
Und mit einem Mal verstummte der Schrei und Rick beruhigte sich. Als könnte der Anblick seiner Katze allen Schmerz auf einmal fortwaschen, wandte er sich zu Klara herum und nahm sie fest in die Arme. Er drückte sie an sich, wohlbedacht, ihr nicht wehzutun. Er wollte sie nur spüren, einfach ihren Herzschlag spüren.
»Klara … ich … oh, Klara …«
Er weinte und streichelte ihr weiches Haar. Immer wieder strich er durch das graue Fell und wie erwartet kam sein Kopf dadurch ein wenig zur Ruhe. Es gab Rick die nötige Kraft, sich über die Gesamtsituation klar zu werden. Es war schließlich noch lange nicht am Ende.
Ich möchte, dass du mit der Axt drei Glieder abtrennst. Wo ist mir dabei völlig egal. Nur muss bei der Abtrennung das Opfer noch am Leben sein.
Die Worte »Cs« drangen in seinen Kopf und quälten ihn erneut. Sie waren wie ein Reklameschild, das Rick direkt ins Gesicht geschleudert wurde. Als wüsste er nicht, was er noch zu erledigen hatte. Als ob er es jemals vergessen könnte.
Rocko … oh, Rocko … es … es tut mir so leid.
Und doch hatte ihm sein geliebter Hund zwei Glieder der Aufgabe geschenkt. Nun gab es »nur noch« ein Glied, dass er abtrennen musste. Und Rick wusste genau, welches . So sehr er bei Rocko Angst davor verspürt und gezögert hatte, nun, in diesem Moment, war alles anders. Er war bereit.
Ruhigen Herzens stand er, mitsamt seiner Katze in Händen, vom Boden auf und streichelte dabei unaufhörlich ihr weiches Fell. Er vermisste Rocko bereits jetzt. Er konnte sich gar nicht vorstellen, wie ein Leben ohne ihn sein würde. Doch ohne Klara? Das wäre gar kein Leben mehr.
Wie das kostbarste Geschenk auf Erden, was Klara in seinen Augen auch war, setzte er seine Katze in einer Ecke des Raumes ab. Er streichelte ihr zum Abschied noch einmal kräftig durchs Fell. Er hatte das Gefühl, sie schnurren zu hören. Dann sprach er seine letzten Worte an sie.
»Es tut mir leid, meine Prinzessin. Es tut mir so leid, dass du all das durchmachen musstest. Aber gleich ist alles vorbei, meine Prinzessin. Bald ist alles vorbei.«
Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und drehte sich daraufhin seinem Hund zu.
Weitere Kostenlose Bücher