77 Tage
gedrückt, wie ein Äffchen seine Pfoten. Hedi streichelte der Patientin sanft den dünnen Unterarm. Neben der Bettlägrigen wirkte die Pflegerin gesund und kräftig. Dabei mussten beide Frauen in etwa gleich alt sein, erinnerte ich mich. Doch die Frau im Bett hätte auch eine Hundertjährige sein können. Weiße Haarfusseln standen sperrig von ihrem in die Kissen gepressten Kopf ab, die Augen über den hohlen Wangen hielt sie weiter geschlossen. Schwer zu sagen, ob sie Hedi überhaupt gehört hatte.
»Liliana ist so ein hübsches Mädchen. Mit großen, blauen Augen, fast wie Sie selbst früher. Na, dann werden wir Sie mal für die Nacht fertig machen. Dazu nehme ich die Bettdecke zur Seite.«
Eine Dunstwolke von Urin und Fäkalien, gegen die selbst Hedis Kölnisch Wasser nicht anstinken konnte, füllte den Raum. War das der Grund für die Duftwasserverschwendung?
Unter der Decke kam ein magerer, kleiner, merkwürdig zusammengekrümmter Körper zum Vorschein. Die dünnen Beine an den Bauch gezogen, ähnelte die Haltung der Frau einem Fötus im Mutterleib.
Hedi schlug auch das Nachthemd zur Seite, das wie ein OP-Hemd nur über die Arme gezogen und mit einem Bändchen im Nacken befestigt worden war. »Der Stuhlgang hat heute geklappt, das ist ja schön!«, freute sich die Pflegerin und streichelte der Patientin über die Wange.
Ich zuckte erschrocken zurück, als die kranke Frau plötzlich die Augen öffnete.
»Kann sie uns hören?«, fragte ich leise.
Hedi lächelte Frau Schiller an: »Natürlich. Leider hat sie durch die Schlaganfälle und die Demenz ihre Sprache komplett verloren. Sie hat sich vollständig in ihre eigene Welt zurückgezogen. Inwieweit sie die Bedeutung meiner Worte erfasst, weiß ich nicht. Aber hören kann sie uns ganz sicher.«
Plötzlich gab die Patientin ein lautes Stöhnen von sich.
Noch einmal zuckte ich zurück, obwohl ich dem Bett bisher sowieso nicht nennenswert näher gekommen war. War das eine Antwort gewesen? Hatte die Frau Hedi etwa verstanden?
Hedi deutete auf die wie beim Ballett spitz nach unten gerichteten Füße der Frau: »Die Schlaganfälle haben Spastiken ausgelöst. Diese Verkrampfungen sind sicher schmerzhaft.«
Der ganze zusammengekrümmte Körper schien verkrampft.
»Wir werden Sie jetzt ein wenig frisch machen, Frau Schiller!«, erklärte Hedi freundlich.
Die Bettlägrige schloss die Augen wieder.
»Die saugfähige Bettunterlage muss gewechselt werden. Dabei kannst du mir ein bisschen helfen, Liliana.«
Oi.
Hedi wartete geduldig lächelnd, bis ich den Sinn ihrer Worte erfasst hatte. Zum ersten Mal an diesem Tag ging mir ihre Seelenruhe ernsthaft auf den Geist. Genervt rumste ich den schweren Pflegekoffer auf den bekrümelten Teppich.
Tag 10
BELLAS BLOG:
SONNTAG, 14.49 UHR
Gestern war Waltrauds sechzigster Geburtstag.
Ein rauschendes Fest. Wie immer. Zu Ehren der sechsten Null ein besonders rauschendes.
Rauschende Feste sind in Marios Familie Tradition. Seine Eltern feiern einfach alles.
Und sie laden alle Menschen ein, die zufällig dieselben Hobbys betreiben wie sie. Zum Beispiel den Kegelklub. Oder die Discofox-Truppe. Und die Seniorengymnastikgruppe der Rheumaliga. Sie laden auch sonst jeden ein, den sie länger als drei Wochen kennen. Selbstverständlich war meine Mutter gestern ebenfalls eingeladen.
Samstagabend trafen sich also alle wieder. Nicht nur Harry, Waltraud und meine Mutter. Auch Tante Minna mit den Stuhlgangproblemen.
Inzwischen wissen also der Kegelklub, der Tanztrupp und die Seniorengymnastikgruppe über meine Unterwäsche Bescheid. Und über Tante Minnas Verstopfung. Die sich nach einer zweitägigen Kartoffelsaftkur gebessert hat.
Ansonsten war der Abend ganz nett.
Nach dem dritten Bier ist Mario durchaus in der Lage, mich zum Tanzen aufzufordern. Und nach dem dritten Sekt stört mich Harrys Schlagermusik auch nicht mehr.
Na schön. Nach dem vierten Sekt habe ich mir vom Tanztrupp den New-Yorker-Schritt beibringen lassen. Um ihn nach einem weiteren Glas zusammen mit zwei Hüftkranken vorzuführen.
Heute Morgen gegen drei waren wir wieder zu Hause. Und hatten den Sex des Monats.
7.
Uff.
In Molles Kneipe ließ ich mich neben Danner auf einen Stuhl fallen. Nach Hedi Sundermanns Altenpflegecrashkurs fühlte ich mich, als hätte man mich in kaltes Wasser geworfen, um mir das Schwimmen beizubringen.
Dabei war es am Ende gar nicht schwierig gewesen, der bettlägrigen Frau Schiller den Hintern abzuwischen und eine frische Windel
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