77 Tage
Schreibtisch.
Nachdem Ingo Kuchenbecker seinen wirklich grandiosen Auftritt beendet und sich zu Danner gesetzt hatte, hatten Agi, Hedi, Mona und Piroschka dann doch genug Anstand besessen, um sich diskret zurückzuziehen und den beiden ein wenig Privatsphäre zu gönnen. Meine Bereitschaft zur Rücksichtnahme hielt sich in Grenzen. Gern wäre ich geblieben und hätte weitergespitzelt, denn ganz wohl war mir, ehrlich gesagt, nicht bei dem Anblick von Danner und der rothaarigen Schönen. Aber ich konnte ja schlecht allein im Fredo’s sitzen bleiben, also hatte auch ich das Feld geräumt.
Jetzt hockte ich in unserer Wohnung vor der Liste mit den Namen der Verstorbenen. Fünfzehn Erben musste ich noch abtelefonieren.
Allerdings fiel mir keine logische Begründung ein, mit der ich die merkwürdigen Dienstzeiten der Wohnungsbaugesellschaft erklären konnte. Die Erben mussten also bis morgen warten.
Aber es gab ja noch eine weitere Spur, mit der ich mich beim Warten auf Danner ablenken konnte.
Ich bewegte die Maus des PC. Der Bildschirm flammte auf.
Bloggergirls, tippte ich in die Suchmaschine ein.
Tag 14
BELLAS BLOG:
DONNERSTAG, 14.45 UHR
Heute müsste ich meine Periode bekommen. Das ist eine Sache, bei der ich genau bin. Liegt am Job. Bis vor drei Jahren gehörte unser Pflegedienst noch zu den letzten seiner Art. Mit traditionell weißer Dienstkleidung.
Ich war immer Gegner dieser Ordnung. Weil viele Menschen einen antrainierten Respekt vor weiß gekleideten Leuten haben. Doch die Chefin gehört zum alten Schlag. Sie bestand auf Weiß. Und auf der bescheuerten Anrede ›Schwester‹. Schwester Bella. Damit jeder senile Grapscher gleich deinen Vornamen kennt.
Jahrelang habe ich die Diskussion mit der Chefin geführt. Und Diskutieren gehört, wie gesagt, nicht zu meinen Stärken. Geändert hat die Chefin die Vorschrift letztlich, weil sich die Kunden beschwerten. Über das indiskrete Weiß. Weil so gleich alle Nachbarn wussten, dass man Pflege benötigte.
Worauf wollte ich hinaus?
Ach so: Bei den abgeschafften, weißen Hosen durfte man auf keinen Fall die Tampons vergessen. Deshalb bin ich sehr genau, was das angeht. Auch heute noch.
Und meine Periode kommt zuverlässig. Dabei habe ich die Pille schon lange abgesetzt. Vor über einem Jahr. Weil ich sie nicht zu lange nehmen wollte. Schließlich handelt es sich um eine Hormontherapie. Als Krankenschwester kenne ich die Gefahren einer Langzeitbehandlung. Eine Alternative zu finden ist allerdings nicht einfach. Als ich Kondome vorgeschlagen habe, hat Mario laut gelacht.
»Lieber heiraten wir, als mit der Scheiße anzufangen.«
Was kurz darauf zu einem Antrag führte.
»Damit deine Mutter keinen Nervenzusammenbruch vortäuscht, falls du tatsächlich schwanger wirst.«
Mittlerweile ist der Nervenzusammenbruch unangemessen. Im Gegenteil. Meine Mutter hat nichts mehr gegen Enkel einzuwenden. Das lässt sie in letzter Zeit öfter durchblicken. Auf ihre bekannt einfühlsame Art.
»Langsam müsst ihr euch ranhalten. Ab einem gewissen Alter geht das mit dem Kinderkriegen nicht mehr von allein.« Oder der Hinweis zu meinem Dreißigsten: »Jetzt bist du übrigens Spätgebärende.«
Stimmt nicht mal. Die Grenze zur Risikoschwangerschaft wurde hochgesetzt. Trotzdem danke auch.
Leider hat sie allem Anschein nach auch noch recht. Denn ich werde nicht schwanger. Obwohl Mario und ich jetzt verheiratet sind, statt zu verhüten. Meine Mutter muss sich gedulden. Auch wenn es ihr schwerfällt.
10.
Nur Vorteile? Nachdem feststeht, dass ich bei der nächsten Stadtratswahl an erster Stelle auf der Liste der Grünen stehen werde, ist auf der Homepage meiner männlichen Konkurrenz Rainer D. tatsächlich zu lesen, dass ich ja auch gleich vier Vorteile vorzuweisen habe: Ich bin erstens eine Frau, zweitens Türkin, drittens alleinerziehend und viertens auch noch ungelernt berufstätig.
Lieber Rainer, seit wann sind das Vorteile?
Ein Weblog – kurz Blog – ist eine Art virtuelles Tagebuch, so viel hatte ich mittlerweile herausgefunden. Abgeleitet wurde die Wortkreation von Web, also dem Netz, dem Internet. Und von Log buch.
So ein Internettagebuch kann offenbar jeder führen, der Spaß daran hat, seine Gedanken, sein Privatleben, seinen schönsten Popel oder eine Fotokopie seines nackten Hinterns mit der Öffentlichkeit zu teilen.
Im Internet gibt es die Möglichkeit, einen eigenen Blog zu gestalten. Bei den Bloggergirls zum Beispiel.
Als ich auf gut Glück Gülcan
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