77 Tage
fröhlich zu. »Schön, dass du da bist. Komm, setz dich.«
Einige der anderen Gäste drehten, durch Agis viel zu laute Begrüßung aufmerksam geworden, die Köpfe in meine Richtung. Mein schlicht schwarzes Outfit war zumindest nicht komplett daneben, auch wenn ich gegen die Erregung öffentlichen Ärgernisses gewöhnlich nichts einzuwenden hatte. Doch bei Ermittlungen war mein Schlabberoutfit oft eher hinderlich.
Auch Danner, der einige Tische weiter vorn an der Bühne saß, sah sich nach mir um. Es gelang ihm nicht ganz, seine Überraschung zu verbergen, als er den mit Altenpflegerinnen voll besetzten Tisch bemerkte. Agi hatte ihn ebenfalls entdeckt und winkte ihm kichernd zu. Das Glas Wein vor ihr war wahrscheinlich nicht ihr erstes.
Danner erinnerte sich an seine Rolle und hob die Hand, um mit den Fingern ein feminines Winken in unsere Richtung zu klimpern.
Ich zog den letzten freien Stuhl zwischen Hedi und Mona Rudzinski vor und nahm auf dem aufgebauschten rosa Samtpolster Platz.
Tatsächlich handelte es sich bei der Dame mit der rauchigen Stimme um Ingo Kuchenbecker, der unter dem schlichten Künstlernamen Hilde auftrat. Auf der Bühne, auf einem Barhocker vor dem lackschwarzen Flügel wirkte er weder wie ein Mann noch wie Ende fünfzig.
Seine Aufmachung war überzeugend weiblich. Nicht schrill, glitzernd und bunt wie eine Samba-Queen im Karneval. Keine Parodie einer Frau, sondern irgendwie echt.
Ich bestellte mir einen Prosecco und stieß mit einem leicht mulmigen Gefühl mit den anderen auf ›Ben und Ingo‹ an.
»Ist der Ingo denn schon lange solo?«, erkundigte ich mich in der Runde.
Die schweigsame Mona rechts neben mir zuckte die Schultern und schwieg. Piroschka Weber, die ihre modisch durchgestuften, dunklen Haare heute offen trug, wurde rot. Offenbar gehörten beide zu der Sorte Menschen, die in Gruppen von mehr als drei Personen chronisch sprachlos waren.
Ich wollte die beiden nicht quälen, deshalb wandte ich mich Agi und Hedi zu, die dieses Problem definitiv nicht hatten.
»Sein Partner hat sich vergangenes Jahr von ihm getrennt – wegen eines Jüngeren. Ja, das passiert nicht nur uns Frauen«, erklärte mir Agi mit vom Wein leuchtenden Wangen. »Das war kurz bevor mein Mann verstarb, wir haben uns dann gegenseitig bei der Trauerbewältigung geholfen. Ach, Ingo ist ein Süßer. Ich wünsche ihm wirklich, dass er wieder jemanden findet.«
Wenn es nicht gerade mit meinem Freund war, sollte Kuchenbecker von mir aus glücklich werden.
»Unser Ben zeigt jedenfalls Interesse.« Hedi deutete schmunzelnd auf Danner, der auf seinem Stuhl zurückgelehnt mit von sich gestreckten Beinen und einem Bier in der Hand Kuchenbeckers Auftritt verfolgte.
Typische Macho-Pose. Mann, Hedi! Da merkte man, dass die Lange nie verheiratet gewesen war. Kaum eine Rolle spielte Danner so mies wie den Schwulen. Das musste doch auch Kuchenbecker auffallen.
Doch Kuchenbecker klimperte Danner mit unechten Wimpern verliebt an.
Agi und Hedi rieben sich kichernd die Hände.
»Ist ja auch alles nicht so einfach. Ich meine, wenn man als Mann gern Kleider tragen möchte«, giggelte Agi angeheitert weiter. »Ingo ist nicht mehr der Jüngste, er kennt noch andere Zeiten. Als er ein junger Mann war, war Homosexualität nicht selbstverständlich. Sein Vater hat ihn rausgeschmissen, damals. Ihr wisst ja selbst, wie die Menschen der Generation manchmal heute noch eingestellt sind.«
Danner hatte Ähnliches bemerkt. Doch erst, als ich jetzt nachrechnete, wurde mir das Problem richtig bewusst: Einige der Menschen, die heute Pflege bedurften, waren noch in ganz anderem Stil erzogen worden. Bei der nationalsozialistischen Jugendfreizeit war die Toleranz Transvestiten gegenüber nicht erstes Lernziel gewesen. Sicher musste Kuchenbecker sich hier und da mit Patienten auseinandersetzen, die den Christopher Street Day für eine neumodische Form von Fasching hielten.
»Das macht ihn manchmal ganz schön fertig, das kannste mir glauben.« Agi starrte in das schimmernde Rot ihres Glases. »Da ist man nie alt und weise genug, um drüberzustehen. Vor allem, wenn es privat auch nicht so toll läuft.«
Sie stieß mit Hedi an und ich tickte spontan mein Sektglas gegen die Weinkelche der beiden Älteren.
»Trinken wir darauf, dass unser Ingo einen netten Mann findet, durch das Singen reich wird und den Job an den Nagel hängen kann«, schlug Hedi vor.
»Prösterchen«, kicherte Agi.
Um kurz vor zehn kehrte ich zurück an den
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