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77 Tage

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Titel: 77 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucie Flebbe
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mit!, lautete die Überschrift ihres neuesten Textes, den sie gestern Nacht geschrieben haben musste. Ein Foto zeigte zwei junge Türkinnen in Blaumännern, die auf einer Baustelle einen Betonmischer bedienten.
    Du bringst unsere Mutter um! Ist dir das scheißegal, oder was?
    Klappe, Claudius!
    Am rechten Bildschirmrand gab es eine Liste anderer Weblogs. Sie leuchteten blau, sie waren verlinkt, verknüpft. Man musste den Namen nur anklicken, um auf der Internetseite einer anderen Person zu landen.
    Da gab es Mama im Streik , Selina, Rettet den großen Panda, Denken und Meinen, Mo’s Loveblog, Miss Kanatan’s komische Gedanken und elf weitere Weblogs, die ihrerseits wieder mit anderen Seiten verknüpft waren wie ein riesenhaftes Spinnennetz. Es musste Tausende verschiedener Blogs geben, ein riesiges Labyrinth von Texten.
    Planlos klickte ich mich durch die anderen Seiten, die mit Politik, mit Frauen, mit Umweltschutz, mit wütenden Frauen, mit Liebe, mit wütenden, streikenden Frauen, mit radikalen Tierschutzorganisationen oder mit wütenden, streikenden, türkischen Frauen zu tun hatten.
    Gülcan benutzte ihren echten Namen, wohl, weil sie den Blog als politische Plattform nutzte. Die meisten anderen schrieben unter Fantasienamen oder Kürzeln, wie Miss Kanatan oder Mo. Wahrscheinlich hatte Gülcan wahllos auf alle Blogs verlinkt, die ihr gefielen …
    … und natürlich auf die Seiten von Leuten, die sie kannte.
    Hm.
    Ich klickte mich zurück auf Gülcans Blog. Konnte ich so womöglich die Seite von Janine Hinze finden?
    Ich ging die Liste von oben nach unten durch, klickte alle an, überflog aktuelle Einträge und Kommentare.
    Und tatsächlich, bei Mama im Streik wurde ich fündig. Eine Mama, die sich selbst Pink Ninja nannte, erzählte hier von ihrem Leben als alleinerziehende Ausbilderin ihres Little Ninja.
    Verdächtige Ruhe, lautete die Überschrift des aktuellsten Eintrages. Als über drei Minuten kein Laut mehr aus der Badewanne zu hören gewesen war, sah ich nach dem Rechten. Da hatte das kreative Kleingenie den Spielzeugmangel beseitigt und drei Würste in die Badewanne gekackt, die nun als U-Boote herhalten mussten …
    Unter dem Text hatte Gülcan einen Kommentar geschrieben: Ahoi, Janine. Halt den Kopf über Wasser. Bis morgen, Gül.
    Volltreffer.
    Ich hatte Janine Hinzes virtuelles Ich identifiziert. Und herausgefunden, dass auch sie ein Kind hatte.
    Der zweite Kommentar zu dem neuesten Text ließ mich stutzen. Er war kurz: :–) Sehen uns. Mo
    Ein Gedanke glitt an mir vorbei, hielt inne und schwebte zu mir zurück.
    Mo?
    Waren Gülcan und Janine womöglich gar nicht die einzigen bloggergirls des Pflegeteams? Auch Mo schien in der realen Welt eine Bekannte zu sein. Konnte hinter Mo’s Love- blog etwa die schweigsame Mona Rudzinski stecken?
    Nee. Im Leben hätte ich bei der keine sensible Seite vermutet. Die sah doch aus wie eine Gewichtheberin, die in ihrer Freizeit brüllend Hundert-Kilo-Hanteln über ihren Kopf stemmte.
    Ich sah mir Mo’s Loveblog genauer an.
    Eine rosarote Seite, gefüllt mit – Liebesgedichten!
    Ich liebe dich, hieß gleich das neueste Werk der Poetin. Mal von hinten – mal von vorn – bis dir glühen deine Ohren …
    Uff.
    Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Gülcan diesen rosa Schmalz mit ihrer Seite verlinkt hatte, weil ihr die anspruchsvolle Lyrik so gut gefiel. Nein, es war relativ wahrscheinlich, dass sie die Verfasserin persönlich kannte.
    Ob wirklich Muskel-Mona diese beeindruckende Poesie dahingeschnulzt hatte?
    Das Klingeln des Telefons stellte mein Grinsen abrupt ab. Es klang fordernder, schriller als noch vor zwei Tagen. Bedrohlich irgendwie.
    Ich wartete in der Hoffnung, der Apparat würde von selbst die Klappe halten. Von wegen. Nach dem achtzehnten Klingeln ging ich doch dran.
    »Liliana?«
    Verdammt. Ich kniff die Augen zu. Weil zum Telefonieren aber noch immer die Ohren benötigt wurden, konnte meine Grimasse die weinerliche Frauenstimme nicht am Weitersprechen hindern.
    Ich sehe meine Mutter in einem bodenlangen, nachtschwarzen Kleid vor mir, das die Auswirkungen lebenslanger Diäten ausreichend zur Geltung bringt. Ihre Hochsteckfrisur schimmert goldblond, weil ihr Friseur zweimal im Monat jeden Ansatz von Grau entfernt. Und die Absätze ihrer Stilettos machen sie locker zwölf Zentimeter größer als mich.
    »Liana, Liebes, ich habe mir solche Sorgen gemacht. Ich … ich fürchtete, du hättest dir womöglich etwas angetan …«
    Oh, das wäre eine

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