77 Tage
Pflegekräften den Umgang erleichtert. Man kann sich besser einfühlen, die Person sogar verstehen, wenn sie sich nicht mehr mit Worten ausdrücken kann.«
»Das habe ich gemerkt«, nickte ich. »Nachdem ich mir das Album der giftigen, alten Frau Küppers angeguckt hatte, konnte ich sie als die durchsetzungsfähige, engagierte Pastorenfrau sehen, die sie früher mal war. Dadurch verstehe ich ihr biestiges Verhalten viel besser und das finde ich sehr spannend.«
Agis runde Wangen bekamen Farbe: »Es ist einfach so, dass die verbale Kommunikation bei Patienten mit Gedächtnisstörungen immer unwichtiger wird.«
Ihre Begeisterung für das Thema schien echt.
»Im hohen Alter ziehen sie sich in ihre eigene Welt zurück, sie leben in ihren Erinnerungen, die oft nicht so erfreuliche Gegenwart verliert an Bedeutung. Emotional bedeutsame Erlebnisse treten in den Vordergrund. Eine Frau, die ihre schönste Zeit als junge Mutter erlebt hat, wird vielleicht im Stuhl sitzen und eine Puppe im Arm wiegen, während sie das echte, erwachsene Kind beim Besuch nicht erkennt.«
Woran sich die giftige Frau Küppers wohl erinnerte, wenn sie ihre Pflegerinnen als Nutten beschimpfte?
»Schwer nachzuvollziehen für ein junges Mädchen wie dich, oder? Ich glaube, viele Gedächtnisgestörte ziehen ihre Welt der echten vor«, erklärte Agi katzenstreichelnd. »Im Alter wird einem oft nicht mehr der gewohnte Respekt entgegengebracht. Andere entscheiden, welche Hose du anziehst, was es zu essen gibt, im schlimmsten Fall, in welchem Altenheim du leben wirst.«
Vielleicht hatte ich etwas Ähnliches getan, als ich Wände einstürzen sah, während mein Bruder mich bedrohte, überlegte ich. Dass ich in dem Moment die Realität wahrnehmen wollte, konnte ich jedenfalls nicht behaupten.
»Aber auf Gefühlsebene kannst du die Patienten erreichen. Verwirrte Patienten möchten, dass man sie in ihrem Gefühl ernst nimmt. Dazu braucht es ein wenig Einfühlungsvermögen. Man muss auf die nonverbalen Signale achten.«
»Nonverbale Signale?«
»Selbst Bettlägrige teilen sich mit – ohne Worte. Hedi hat da eine schöne Arbeit drüber geschrieben. Die kann dir das am Patienten auch praktisch zeigen. Ich frage sie mal, ob sie dich morgen wieder mitnimmt, okay?!«
Augenblick! So hatte das eigentlich nicht laufen sollen. Eine weitere Mammuttour mit der übereifrigen Hedi, das fehlte mir gerade noch. Ich wollte doch auf etwas ganz anderes hinaus.
Agi strahlte mich an.
»Das wär ja super«, knirschte ich so begeistert, als hätte sie mir noch eine Tasse Katzenhaartee angeboten.
»Und ich habe heute Abend eine Gruppe im Seniorenheim. Interaktive Therapie, damit kann man auch bei stark desorientierten Patienten Erstaunliches erreichen. Du kannst gern dazukommen, wenn du Interesse hast.«
Jetzt war es aber gut! Wenn ich nicht aufpasste, verpflichtete sie mich noch als ehrenamtliche Leiterin einer wöchentlichen Seniorentheatergruppe.
»Mal sehen«, murrte ich. »Zeigen sich die alten Leute denn auch mal dankbar für so viel Engagement?«, versuchte ich plump, das Gespräch wieder auf Kurs zu bringen.
»Wenn du Trinkgeld erwartest, geh lieber kellnern«, winkte Agi ab. »Die meisten Rentner haben nicht viel Geld. Vor allem bei den Frauen, die wegen der Kindererziehung nicht viel in die Rentenkasse eingezahlt haben, stockt oft das Sozialamt auf, damit sie genug zum Leben haben.« Agi seufzte bekümmert. »Die Belohnung für die Biografiearbeit ist eher ein reibungsloserer Umgang, weniger Gemotze und Beschwerden.«
Ja, ja, da wollte ich ja auch gar nicht drauf hinaus: »Hat dir denn schon mal jemand was vererbt?«
Agis graue Brauen rückten über ihren kugeligen Augen zusammen: »Das kannste dir abschminken! Wir dürfen keine Erbschaften annehmen. Vollkommen in Ordnung, die ständige Leichenfledderei finde ich so was von schlimm!«
Oha!
Ich hatte es geschafft, die friedliche Agi wütend zu machen. Anscheinend war Erbschleicherei eine weiter verbreitete Methode, an Geld zu kommen, als mir bewusst gewesen war.
»Andererseits sind Erbschaftsversprechen die beliebteste Methode, die Verwandtschaft zu Besuchen zu motivieren«, fuhr Agi grimmig fort. »Genauso schlimm, wenn du mich fragst.«
Die Pflegerin atmete durch, um sich zu beruhigen.
»Na ja, nur bei Tieren ist das wichtig, die müssen schließlich versorgt sein. Mich hat mal eine Klientin gefragt, ob ich mich nach ihrem Tod um den Franzl und die Sissi kümmern würde.« Agi deutete auf den pelzigen
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